Die Depressionsfalle
zumindest bis zu einem gewissen Grad. Häufig haben diese Patienten über längere Zeit Beruhigungsmittel, Antidepressiva oder Alkohol eingenommen. Manche dieser Patienten neigen dazu, die vorgegebene Dosis eher zu erhöhen als zu reduzieren, sodass oft auch an mögliche hirnorganische Probleme auf Grund einer lang anhaltenden Einnahme von Beruhigungsmitteln (z.B. Benzodiazepine) gedacht werden sollte.
Auch bei dieser Gruppe von Patienten ist das Selbstmordrisiko relativ hoch, vor allem dann, wenn irgendein noch so trivialer Auslöseraus dem sozialen Umfeld hinzukommt: Das kann ein wie auch immer gearteter aktueller, völlig banaler Verlust sein oder eine als besondere Kränkung oder Zurückweisung verstandene Beziehungskrise mit einer nahestehenden Person.
2. Schritt: Klarstellung der derzeitigen Lebenssituation der Patienten
Der nächste Schritt des diagnostischen Prozesses ist es, Informationen über die derzeitige Lebenssituation zu erheben: Wer sind die nahestehenden Personen, in welcher Art von Beziehung steht man zu ihnen, wie sieht die Wohn-, wie die berufliche und finanzielle Situation aus? Auf Grund mancher konkreter Probleme kann es erforderlich sein, die Patienten zu motivieren, sich andere professionelle Hilfe, z.B. Rechtsberatung, zu organisieren.
Diese erste Phase des diagnostischen Erstgesprächs sollte mit irgendeiner von den Patienten als Hilfestellung erlebten Intervention abgeschlossen werden. Bei diesen ersten kleinen Hilfestellungen sind der Phantasie des Behandelnden keine Grenzen gesetzt. Eine derartige Hilfestellung kann z.B. die Ãberweisung zu einer physikalischen Therapie sein, in deren Verlauf mit dem Patienten etwas Körperliches geschieht, das keine Schmerzen verursacht, jedoch eine gewisse Form von Zuwendung beinhaltet. Das ist natürlich bei sehr gehemmten Patienten oft schwierig und langwierig, da diese all diesen Aufforderungen nicht so einfach nachkommen können.
3. Schritt: Die Biografie oder Lebenslerngeschichte der Patienten
Prinzipiell ist alles, was den Patienten zu ihrer Lebensgeschichte einfällt, für die Diagnose und die Behandlungsindikation wichtig. Nachdem man die Zeit unmittelbar vor Beginn der Depression besprochen hat, bewegt man sich gemeinsam mit dem Patienten zurück in dessen Jugend und Kindheit. Die früher erwähnten âKatastrophen der Kindheitâ â Verlust der wichtigsten Bezugsperson, Trennungen, Liebesverluste, schmerzliche Erfahrungen mit körperlicher, seelischerund sexueller Gewalt â sowie eine besonders strenge, strafende Erziehung müssen aktiv, aber vorsichtig nachgefragt werden. Besonders traumatisierende Erfahrungen können von Patienten aus Schamoder Schuldgefühlen unabsichtlich âvergessenâ werden.
Für das Thema Depression sind besonders die Art und die Qualität zu den wichtigen Bezugspersonen der frühen Kindheit â in der Regel zur Mutter â und mögliche Verluste dieser Personen von Bedeutung. Wenn ein zeitlicher Zusammenhang zwischen einem aktuellen Verlust und dem Beginn der depressiven Verstimmung herstellbar ist, kann das für die Patienten eine gewisse Erleichterung bringen und so auch die Motivation zur Zusammenarbeit fördern. Durch aktuelle Verluste werden immer alte, in der Kindheit schmerzlich erlebte Verluste oder Trennungen aktualisiert. Die aktuellen Verluste können vielfältig sein: Jede Veränderung im Leben des Patienten, ihn selbst, seinen Körper oder sein Umfeld betreffend, impliziert einen Verlust. Angst, Scham- und Schuldgefühle können dazu führen, Verluste zu âverschweigenâ. Dieses Verschweigen kann unterschiedlich motiviert und muss keineswegs Absicht sein: Ereignisse und Erlebnisse, die zu dem Bild, das man von sich selbst hat, nicht passen â z.B. weil man sich dafür schämt, dass einem etwas Bestimmtes zugestoÃen ist â, werden âvergessenâ oder als nichtig und unbedeutend verworfen. Aber nicht nur Personen, Lebensumstände und körperliche Funktionen können verloren werden, auch Gefühle von Zugehörigkeit zu einer Person, einer Institution, einer Ideologie, einem Verein, einem Vaterland, können verloren gehen â meist aus enttäuschten Erwartungen heraus. Durch das unbewusste âErinnernâ an alte schmerzliche Verluste oder Trennungen wird von den Depressiven im Hier und Jetzt auf diese âalten Verlusteâ quasi
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