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Die Depressionsfalle

Die Depressionsfalle

Titel: Die Depressionsfalle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Braumüller <Wien> , Alfred Springer
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„Psychotonikum“ und brachte sie 1956 auch auf den amerikanischen Markt. Dort wurde Ritalin zunächst als Substanzbeworben, die die Stimmung einer depressiven Person normalisieren könne, ohne zu einer Übererregung zu führen.
    Klinische Untersuchungen, die ab 1955 in mehreren Einrichtungen stattfanden, bestätigten diese Vorgaben. 1957 bescheinigte das Council on Drugs der Amerikanischen Ärztegesellschaft der Substanz, „als mildes Stimulans der Hirnrinde in der Behandlung verschiedener Depressionen nützlich zu sein.“ Diese Auffassung wurde zu Werbezwecken benutzt. CIBA pries im selben Jahr das Ritalin in seinen Werbebroschüren als „mildes, sanft wirksames Antidepressivum und Stimulans“ an.
    Generell wurde festgestellt, dass neurotische Patienten besser auf das Präparat ansprachen als solche, die unter psychotischen Symptomen litten, wenngleich man auch empfahl, die Wirksamkeit bei chronischen, regressiven und negativistischen Psychotikern zu untersuchen. 1966 wurde in der 10. Auflage des Bleuler’schen Lehrbuchs für Psychiatrie Ritalin als Mittel gegen leichte Depression empfohlen, „wenn Anregung erwünscht ist“. Noch 1970 untersuchte Karl Rickels in der Universität von Pennsylvania die Wirkung von Ritalin gegenüber Placebo an 42 leicht depressiven Patienten und fand eine signifikante Wirkung der Substanz. Er kam zum Schluss, dass Ritalin gut geeignet sei als Therapeutikum bei Patienten, die an leichten bis mittelschweren depressiven Verstimmungen litten und deren hauptsächliche Beschwerden Müdigkeit, Teilnahmslosigkeit und Appetitlosigkeit seien. Rickels meinte auch, dass die Substanz sich dafür eigne, durch Allgemeinmediziner verordnet zu werden.
    Ritalin war vielleicht die erste Substanz, die ausdrücklich als Antidepressivum empfohlen wurde, und es war gleichzeitig jene Substanz, an der die Notwendigkeit der Unterscheidungen zwischen der Behandlung verschiedener Ausprägungen und Typen der Depression deutlich wurde. Ritalin galt als Heilmittel bei nicht-melancholischen Depressionen, die in der allgemeinärztlichen Praxis versorgt werden konnten, nicht aber bei der schweren Melancholie, die oftmals stationärer Behandlung bedarf.
    Ritalin bezeugt weiters, dass die Amphetamine in der Psychiatrie nicht nur als Antidepressiva eine Rolle spielten und spielen, sondern ein breiteres Behandlungsspektrum abdecken. Bereits 1937 hatteder Kinderarzt Charles Bradley im Rahmen seines neurologischen Studiums jenen weiteren Effekt des Amphetamins beobachtet, der bis heute dieser Stoffgruppe ihren festen Platz in der psychiatrischen Pharmakotherapie garantiert. In einem Spital in Rhode Island hatte man einigen Kindern, die unter starken Schmerzen litten, Benzedrin verabreicht, um ihre Stimmung aufzuhellen. In diesem Therapieversuch ließ sich auch die unerwartete Beobachtung machen, dass das zentrale Stimulans zu einer Steigerung der Konzentration führte und eine beruhigende Wirkung auf überaktive Kinder hatte. Das Amphetamin, das auf Erwachsene stimulierend wirkte, hatte also offenbar auf Kinder eine beruhigende Wirkung. Charles Bradley beschrieb 1937 diesen paradox erscheinenden Wirkmechanismus unter dem Titel
The Behavior of Children receiving Benzedrine
im
American Journal of Psychiatry
und begründete damit die Behandlung des Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitäts-Syndroms (ADHS) im Kindesalter in der bis heute gültigen – und nicht unumstrittenen – Form (siehe Seite 227 ff.).
    Ab 1952 ergab sich für die Amphetamine als weiteres Behandlungsfeld die Therapie der „post-traumatischen Angst“. Dieser Behandlungstrend basierte auf therapeutischen Experimenten, die bereits seit 1946 im Bellevue Hospital in New York betrieben worden waren. Dort wurde den Patienten Methamphetamin mit der Zielsetzung verabreicht, bislang unzugängliches, traumatisches Material aus der Verdrängung zu befreien und therapeutisch verarbeitbar zu machen. Trotz der guten Reputation, die die Amphetaminderivate in der Psychiatrie genossen, wurden sie mehr und mehr zu soziokulturellen Problemsubstanzen, und schließlich wurden sie der internationalen Kontrolle unterstellt.
    Die psychoaktiven Wirkungen, deren sich die Psychiatrie in kurativer Absicht bediente, machten die Substanzen auch außerhalb des medizinischen Anwendungsbereichs zu begehrten Konsumgütern. Menschen nutzten sie als „soziale Drogen“ mit

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