Die Depressionsfalle
âEnhancementâ, negativ als âDopingâ beschrieben wird. Es wurden Zubereitungen von Arzneimitteln produziert, die nicht verschreibungspflichtig waren und an jedermann abgegeben werden konnten. Sie waren âTonikaâ â das heiÃt Produkte, die zwischen Genussmittel und Medikament angesiedelt sind, als Anregungs- und Kräftigungsmittel gelten und Effekte ausüben sollen, die jeder Mensch, ob gesund oder krank, als wohltätig und nützlich erkennt.
Als Substanz, die die Vorstellungen und Erwartungen an ein âideales Tonikumâ zu erfüllen schien, galten im Fin de Siècle bestimmte kokainhaltige Zubereitungen. In einer Untersuchung zu der kulturellen Bedeutung des Kokaweins, der von 1889 bis 1920 in Frankreich von dem Apotheker Angelo Mariani und später von seinem Sohn hergestellt wurde, lieà sich erkennen, dass an/von ihm viele Wirkungen beobachtet bzw. erwartet wurden, die dem Katalog entsprechen, den Hollister als Bedingung für ein ideales psychotherapeutisches Heilmittel entwickelt hat. Die Wirkungen, die dem Kokawein zugeschrieben und von ihm erwartet wurden, umfassen:
⢠Leistungssteigerung
⢠Erhöhung der militärischen Schlagkraft, wodurch die Substanz im Kriegsfall einzusetzen war
⢠Verbesserung der Stimmung (Euphorisierung)
⢠Förderung der Kreativität
⢠Anregung erotischer Gefühle und erotischen Verhaltens
⢠Steigerung der sexuellen Potenz (sowohl funktionell als auch generativ)
⢠Verlängerung der Lebenserwartung
⢠allgemeine Heilkraft
AuÃerdem sollte die Droge für beide Geschlechter und für alle Generationen in gleicher Weise geeignet sein. Besondere Beachtung wurde der Fähigkeit des Produkts geschenkt, sportliche Leistungen zu ermöglichen und zu verbessern. Es wurde deshalb eine spezielle, höher dosierte Zubereitung für Radfahrer produziert. 64
Bemerkenswert ist, dass in dieser Frühzeit der Produktion psychoaktiver Stoffe dieses Wirkungsspektrum für alle Lebensbereiche zur Verfügung stehen sollte und nicht an Krankheit gebunden war. Obwohl der heilsame Wirkungscharakter hervorgehoben wurde und zahllose medizinische Expertisen die Wirkung der Substanz bei den verschiedensten Erkrankungen beschrieben, war der Kokawein ein âTonikumâ und galt vorrangig als âLebensstildrogeâ.
Die Entwicklung des neuen Verständnisses von Sucht und Drogenkontrolle und wohl auch von der Psychiatrie als Lehre und Praxis brachte es mit sich, dass die Möglichkeit, sich mittels eines frei zugänglichen Tonikums âbesser als gutâ zu fühlen, verlorenging. Die tolerierte Einnahme bewusstseinsverändernder und leistungssteigernder Substanzen wird an ärztliche Verschreibung und damit an Krankheit gebunden, Psychiatrie und Psychotherapie gelten seit dem Erblühen der naturwissenschaftlichen Psychiatrie als Vermittler eines durch Arzneimittel eingeleiteten Prozesses. Es kommen zu diesem Zweck Arzneimittel zum Einsatz, deren Wirksamkeit im Sinne eines âheilsamen Wandelsâ der Persönlichkeit, des Empfindens, der Wahrnehmung und der Affektlage beschrieben wird. Die Symptombekämpfung und ihr Erfolg wird an der Persönlichkeit und am Verhalten sichtbar und auch daran gemessen.
Antidepressiva und Persönlichkeitswandel
Den Reigen der Substanzen, an denen erkannt wurde, dass sie einen derartigen Wandel bei depressiven âmelancholischenâ Patienten bewirken konnten, eröffnete das Opium. Opium ist von unschätzbarem Wert in den Anfangsstadien der Melancholie: âEs lindert die psychische Hyperästhesie und erweist sich von besonderem Wert bei Zwangsgedanken und Präkordialangstâ (Krafft-Ebing 1879). Dann kam Kokain. Berühmt-berüchtigt sind die persönlichen ÃuÃerungen von Sigmund Freud in seinen
Brautbriefen
: âWehe, PrinzeÃchen, wenn ich komme. Ich küsse Dich ganz rot und füttere Dich ganz dick, und wenn Du unartig bist, wirst Du sehen, wer stärker ist, ein kleines, sanftes Mädchen, das nicht iÃt, oder ein groÃer, wilder Mann, der Cocain im Leib hat. In meiner letzten schweren Verstimmung habe ich wieder Coca genommen und mich mit einer Kleinigkeit wunderbar auf die Höhe gehoben. Ich bin eben beschäftigt, für das Loblied auf dieses Zaubermittel Literatur zu sammeln.â 65 Ãhnliches, meinte Freud wohl, würden auch seine Patienten empfinden, denen er
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