Die Depressionsfalle
Behandlungâ im Bereich emotioneller und affektiver Störungen möglicherweise in dem Sinn auch ungünstig aus, dass ein Weg vorgegeben wird. Um Arzneimittel in präventiver Absicht verschreiben zu können, muss die Diagnose âDepressionâ ausgesprochen werden. Bevor die Prognose der Krankheit durch die Verlaufsbeobachtung bewiesen werden kann, wird sie durch die diagnoseabhängige Behandlung bestätigt. Für den Psychiater liegt eine âWin-Win-Situationâ vor. Kommt es zu keiner Verschlechterung der Symptomatik, kann man sagen, dass die präventive Behandlung genutzt hat. Tritt eine Verschlechterung des Zustands während der Behandlung ein, kann das als Beweis für ihre Berechtigung gesehen werden. Die Möglichkeit der spontanen Selbstheilung wird allerdings verschleiert. Dadurch werden Menschen, bei denen dieser günstige Verlauf vorliegt, unnötig stigmatisiert.
Die These von der âkosmetischen Psychiatrieâ weist auf die anthropologische und kulturphilosophische Dimension der Depression und ihrer Behandlung hin und rückt sie in den Bereich uralter Sehnsüchte des Menschen, der Suche nach Glückserfahrungen und nach Selbstverwirklichung.
Chemische Glücks- und Lustsuche
Peter Kramer hat in seiner Begründung der Verschreibung von Psychopharmaka an Personen, die nicht krank sind, die sich aber âbesser als nur gutâ fühlen wollen, auf die Kontroverse zwischen âpsychotropen Calvinisten oder Puritanernâ und âpsychotropen Hedonistenâ hingewiesen. Rat und Behandlung Suchenden die Verordnung von Arzneimitteln, die die Stimmungslage anheben, zu verweigern, wenn sie nicht eindeutig als depressiv krank diagnostiziert werden können, imponierte ihm als Ausdruck einer puritanischen Haltung. Es erschien ihm auch als puritanisch, dass man Menschen verweigert, chemische Mittel zur individuellen Glückssuche einzusetzen. Die SSRI könnten relativ gefahrlos zur Verfügung gestellt werden, weilsie keine Drogen sind, die einen raschen Kick vermitteln und ein unstillbares Verlangen nach sich ziehen. Anders als Drogen wirken sie âprosozialâ, führen nicht zum Rückzug, sondern fördern die soziale Kommunikationsfähigkeit und Leistungsfähigkeit. Prozac verschaffe lediglich Menschen, die unter eingeschränkter Lustfähigkeit leiden, einen Zugang zur Freude, den normale Menschen ohnehin haben.
Das soziale und ökonomische Problem, das daraus resultieren kann, dass ein Arzt eine Substanz nicht zu einem Heilzweck, sondern für die Befriedigung persönlicher Bedürfnisse verschreibt, schien ihm nicht unlösbar. Die Finanzierung des Mittels sollte von der Sozialversicherung nur dann getragen werden, wenn es einem Heilzweck dient. Werde es zur Befriedigung des Wunsches sich âbesser als gutâ zu fühlen abgegeben, müsse der Konsument selbst die Kosten tragen.
Der französische Soziologe Alain Ehrenberg konnte dieser Auffassung einiges abgewinnen, indem er sie in den gesellschaftlichen Kontext rückte. Das Bedürfnis nach der Verschreibung von Medikamenten mit breitem Wirkungsspektrum sei als Reaktion auf das Anwachsen der normativen Anforderungen gut verständlich und entspreche der amerikanischen Logik des Nutzens und der Performance, die zunehmend auch in der europäischen Kultur um sich greife. 61
In gewissem Sinn schrieb Kramer den SSRI eine Funktion zu, die Aldous Huxley in seiner Zukunftsvision
Schöne neue Welt
der fiktiven Substanz âSomaâ zugeordnet hatte. âSomaâ war in dieser utopischen Gesellschaft jedermann zugänglich. Ihre Einnahme war nicht einer privilegierten Gruppe vorbehalten, sondern die Droge galt als apolitische Institution, als Vermittler des gesetzlich verbrieften Anspruchs auf Freude und Freiheit, den die Bewohner der
Schönen neuen Welt
in Huxleys Roman hatten. âSomaâ stand zur Verfügung, wenn man sich niedergedrückt oder verstimmt fühlte, aber auch wenn man âUrlaub von dunklen Gefühlen oder privaten Belastungenâ nehmen wollte. âSomaâ war frei von schädlichen Auswirkungen auf Leib und Seele und es war gleichzeitig Beruhigungsmittel und Anregungsmittel, es verschaffte sowohl ein kreatives Hochgefühl als auch jenes Glücksgefühl, das der Entladung von Angst und Spannung folgt. Kurz: Huxley versuchte, die Vision einer idealen Droge zu kreieren.
In der Zeit, in der Autoren
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