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Die Depressionsfalle

Die Depressionsfalle

Titel: Die Depressionsfalle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Braumüller <Wien> , Alfred Springer
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wahren Selbst gelangt zu sein. Als versucht wurde, es abzusetzen, traten bald wieder Probleme auf, die an den Zustand gemahnten, in dem Tess sich befunden hatte, bevor sie auf Prozac eingestellt worden war. Sie rief Kramer an und klagte darüber, „nicht mehr sie selbst“ zu sein. Auf die Frage, was sie darunter verstehe, gab sie an, dass sie sich bereits nicht mehr als sie selbst fühle, wenn Andeutungen von Empfindungen aus dem „Leben vor Prozac“ wieder auftauchten: schwaches Selbstvertrauen, Verletzlichkeit. Kramer interpretiert, dass Tess dazu gelangt sei, diese Aspekte ihres früheren Lebens, ihrer früheren Normalität als „krankhaft“ zu interpretieren und zu medikalisieren.
    Am zweiten Fall, den Kramer behandelt hat, wurde es noch deutlicher, wie sehr Prozac die Persönlichkeit und Identität von Patientinnen beeinflussen kann. Diese Frau zeigte ebenfalls beachtliche Veränderungen ihres Lebensstils und ihrer Einstellung und reagierte auf diese Erkenntnis auf eine wohl teils ironische Weise; sie sagte Kramer, als er ihr einmal zufällig begegnete: „Wissen sie nicht, dass ich meinen Namen geändert habe? Ich heiße jetzt Frau Prozac.“ 69
    2003 beschrieb Samuel Barondes, wie er durch die Beobachtung der Veränderung, die Prozac bei einer seiner Patientinnen bewirkte, seine ursprünglich reservierte Haltung gegenüber dieser Substanz aufgab und zur Überzeugung gelangte, dass diese Substanz in therapeutischer Hinsicht äußerst wertvoll sein könne. Eine seiner Patientinnen, die an einer dysthymen Störung litt und die schon Erfahrung mit verschiedenen Methoden therapeutischer Interventionen – kognitive Therapie, Behandlung mit trizyklischen Antidepressiva – durchlebthatte und die stets nur eine vorübergehende Besserung in einzelnen Bereichen ihrer Erkrankung beobachten konnte, hatte vehement gefordert, dass er ihr das Arzneimittel verschreiben solle. Sie begründete ihr Verlangen damit, dass sie von den neuen Arzneimitteln aus der populären Presse erfahren habe und dass sie aufgrund der damals üblichen Darstellung der Depression als Auswirkung einer chemischen Imbalance des Gehirns Ängste um ihr Gehirn entwickelt habe und nunmehr eben die Substanz einnehmen wolle, der nachgesagt werde, dass sie imstande sei, diese Störung auszugleichen. Er hatte zunächst gezögert, sie darauf aufmerksam gemacht, dass ihre Symptomatik es nicht erlaube, die Substanz zu verordnen und dass sie eventuell einem Placeboeffekt unterliegen würde, wenn er ihrem Verlangen nachgeben würde. Da sie sich nicht von ihm überzeugen ließ und ihn weiter bedrängte, gab er schließlich nach. Besserungen, die nach einiger Zeit beobachtbar waren, überzeugten ihn immer noch nicht vollständig, dass es wirklich die Substanz war, die die Verbesserung des Zustands bewirkte. Wirklich überzeugt wurde er dadurch, dass die Patientin Material in die Behandlung einbrachte, das sie bis dahin unterdrückt hatte, das aber für sie stets ungeheuer belastend gewesen war. Sie litt seit ihrem 14. Lebensjahr unter der Vorstellung, dass ihre Nase deformiert sei. Diese Vorstellung war für sie so schrecklich gewesen, dass sie sie niemandem mitteilen konnte – weder Freunden oder Bekannten noch dem Psychotherapeuten oder Barondes, der ihre medikamentöse Behandlung betreute. Unter der Einwirkung des Arzneimittels verlor die Vorstellung soweit an Bedeutung, dass die Patientin darüber reden und sich auf diese Weise Erleichterung verschaffen konnte. Allerdings musste sie über Jahre hinweg Prozac nehmen. Jeder Versuch, die Substanz abzusetzen, führte sofort zum Wiederauftreten der Zwangsvorstellung. Die Behandlung trug dementsprechend zur Erkenntnis bei, dass die Patientin nicht vorrangig an einer Depression litt, sondern vielmehr die Depression eine Reaktion auf eine zwanghaft-obsessionelle Störung war. Barondes neigte zur Meinung, dass die Wirkung von Prozac in diesem Fall darauf zurückzuführen war, dass die Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer geeignet seien, Zwangsgedanken unter Kontrolle zu bringen. Tatsächlich werden sie ja auch in diesem Indikationsbereich empfohlen.
    Andererseits weist die frühe Auffassung von Schilder, dass der Einsatz von Amphetamin dazu beitragen könne, neues Material in die Behandlung einzubringen, darauf hin, dass in diesem Zusammenhang nicht ein spezifischer Effekt auf den

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