Die Deutsche - Angela Merkel und wir
in Deutschland tabuisiert.
Tatsächlich hat der Umzug von Regierung und Parlament in die an Erinnerungsorten reiche Hauptstadt Berlin keineswegs zu einer neuen Geschichtsvergessenheit geführt, ganz im Gegenteil. Nach dem Regierungswechsel zu Rot-Grün 1998 und dem Umzug ein Jahr später kam es im Gegenteil zu einer Intensivierung geschichtspolitischer Debatten. Sie führten unter anderem zu den Beschlüssen, im Zentrum Berlins ein »Denkmal für die ermordeten Juden Europas« zu errichten und die ausländischen Zwangsarbeiter aus der Zeit des Nationalsozialismus endlich finanziell zu entschädigen.
Die Regierung Schröder/Fischer sah in einem neuen deutschen Selbstbewusstsein auf der Weltbühne einerseits und dem Bekenntnis zur deutschen Vergangenheit andererseits keinen Widerspruch. Das eine war nach ihrem Dafürhalten ohne das andere gar nicht denkbar. Darüber hinaus entwickelte sich Berlin nicht nur zu einer europäischenPartyhauptstadt, sondern auch wieder zu einem Zentrum jüdischen Lebens.
Im hessischen Neuhof hatte die neue Geschichtskultur noch nicht Einzug gehalten, als der Fuldaer CDU-Bundestagsabgeordnete Martin Hohmann dort am 3. Oktober 2003 eine Rede zum Tag der deutschen Einheit hielt. »Gibt es auch beim jüdischen Volk, das wir ausschließlich in der Opferrolle wahrnehmen, eine dunkle Seite in der neueren Geschichte?«, fragte er. Dem amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson zufolge sei die russische Revolution »jüdisch geführt« gewesen. »Daher könnte man Juden mit einiger Berechtigung als ›Tätervolk‹ bezeichnen.« Es dauerte eine Weile, bis die Medien auf die Rede aufmerksam wurden. Am 30. Oktober berichtete die ARD. Die »abstruse Gleichsetzung von Judentum und Bolschewismus«, erläuterte der Freiburger Historiker Ulrich Herbert, sei »das zentrale Gedankengut des nationalsozialistischen Antisemitismus«.
Hohmanns Partei- und Fraktionsvorsitzende versuchte das Thema zunächst klein zu halten. Am folgenden Montag, dem 3. November, erteilte Angela Merkel ihrem Abgeordneten eine Rüge. Damit sollte der Fall erledigt sein. Dann aber wurde ein Brief des Bundeswehrgenerals Reinhard Günzel bekannt, der sich bei Hohmann für dessen Rede bedankte. Verteidigungsminister Peter Struck von der SPD reagierte schnell, er entließ den General und verlangte von Merkel den Fraktionsausschluss Hohmanns. Jetzt nannte auch Kanzler Schröder die Sätze des Abgeordneten »gefährlich«, der israelische Botschafter sprach von einer »klassischen antisemitischen Rede«. Fast zweiWochen nach Bekanntwerden des Textes, am 10. November, kündigte die Vorsitzende den Hinauswurf Hohmanns aus Partei und Fraktion an.
Hatte Merkel wieder einmal zu lange gezaudert? Oder war sie im Gegenteil zu früh davon ausgegangen, dass die Sache erledigt sei? Hatte sie die Brisanz der Rede wirklich falsch eingeschätzt? Oder fühlte sie sich noch nicht stark genug, rechtskonservative Teile der Partei zu verprellen? Immerhin war die Vorsitzende in einer heiklen Phase ihrer Karriere, die Partei stritt gerade um ihren sozialpolitischen Kurs. In einigen Wochen stand der Leipziger Parteitag bevor, und noch stand nicht fest, dass die Radikalreformerin Merkel als Siegerin aus ihm hervorgehen würde.
Weil die Parteivorsitzende die Hohmann-Affäre verschleppte, beherrschte die öffentliche Empörung wochenlang die Medien. Doch wenn Merkel frühzeitig ein Machtwort gesprochen hätte, dann wäre sie die Parteivorsitzende gewesen, die scheinbar ohne zwingenden Grund den Parteifreund abservierte. Oder war am Ende, wie manche meinen, die Intervention der Verlegerin Friede Springer ausschlaggebend, die den Aufstieg Merkels zur mächtigsten Frau in der deutschen Politik mit großem Wohlwollen begleitete (und zwei Jahre später bei der Kanzlerwahl auf der Reichstagstribüne Kekse in Form der Buchstaben C, D, U verknusperte)? Immerhin hatte sie das Erbe ihres Mannes zu wahren, der die »Aussöhnung zwischen Juden und Deutschen« in die Redaktionsstatuten geschrieben hatte.
Die Frau, die einen Fehler angeblich immer nur einmalmacht, hat jedenfalls daraus gelernt. Als der baden-württembergische Ministerpräsident Günther Oettinger 2007 in seiner Freiburger Trauerrede den Amtsvorgänger und einstigen NS-Marinerichter Hans Filbinger von jeder Verstrickung in das Terrorregime reinwaschen wollte, war Merkel tags darauf am Telefon und zwang den Parteikollegen zum öffentlichen Widerruf. Als Benedikt XVI. einen erklärten Holocaust-Leugner 2009
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