Die Deutsche - Angela Merkel und wir
Vergewaltigungsopfer diemedizinische Behandlung verwehrt. Wenn der römische Papst einen Bischof rehabilitiert, der in Großbritannien den Holocaust leugnet, dann ist der Bezug zur deutschen Politik allerdings schwer zu erkennen.
Wandte sich Merkel also an den Kollegen Benedikt XVI. in dessen Funktion als Oberhaupt des kleinsten Staates der Erde? Das wäre denkbar. Wenn allerdings der iranische Präsident Mahmud Ahmadinedschad wieder einmal routinemäßig den Holocaust leugnet, pflegt ihn Merkel nicht mit großem Auftritt ohne Zeitverzug zurechtzuweisen. Es bleibt nur die Version, die in Berlin für Merkels Handeln angeführt wird: Joseph Ratzinger werde in der Weltöffentlichkeit nun einmal als »deutscher Papst« wahrgenommen. Deshalb könne die Bundeskanzlerin nicht stumm bleiben, wenn er sich an der deutschen Staatsräson versündige.
Wieder war der schwäbische Christdemokrat Brunnhuber in Rom, und wieder geriet er mit der Parteivorsitzenden aneinander. »So kann man mit dem Papst nicht umgehen«, sagte er. Aber diesmal reagierte Merkel anders als bei der Auseinandersetzung um die Oettinger-Rede. Sie habe ihn gleich angerufen, sagte Brunnhuber später. Die Kanzlerin wies ihn nicht zurecht, sie bat vielmehr um Rat, wie sie die Katholiken wieder besänftigen könne.
Binnen 48 Stunden schloss Merkel ihren Frieden mit dem Vatikan. Vor derselben grauen Wand im Kanzleramt, vor der sie den Papst am Dienstag kritisiert hatte, äußerte sie am Donnerstag ihr Wohlwollen. Dass Benedikt XVI. den Holocaustleugner Richard Williamson zum Widerruf seiner Aussagen aufgefordert habe, sei »ein wichtiges undauch ein gutes Signal«, sagte Merkel. Am Wochenende telefonierte sie mit dem Kirchenoberhaupt, am Sonntag gaben Vatikan und Bundespresseamt dazu eine gemeinsame Stellungnahme ab, als hätten sie gerade ein Konkordat abgeschlossen: »Es war ein gutes und konstruktives Gespräch, getragen von dem gemeinsamen tiefen Anliegen der immerwährenden Mahnung der Schoah für die Menschheit.«
Diesmal hatte Merkel falsch kalkuliert. Natürlich nahm sie nichts zurück. Sie tat so, als sei der Papst auf ihr Anliegen eingegangen. Und sie opferte viel Zeit für Reisen zu den Katholiken. Den Höhepunkt dieser Auftritte, bei denen sie sich meist vage zu einem »christlichen Menschenbild« bekannte, bildete eine lange Grundsatzrede vor der Katholischen Akademie in München. Dort rühmte sie sogar die Schriften Joseph Ratzingers, die vermutlich nicht zur Lieblingslektüre der Vielleserin Merkel in ihrer Zeit an der Ostberliner Akademie der Wissenschaften gezählt hatten. »Der Papst hat, als er noch Kardinal war – in sehr spannenden Aufsätzen, wie ich finde –, darüber geschrieben, wie sich die Säkularisierung in unseren europäischen Ländern auswirkt und wie sie die Präsenz des Glaubens in der alltäglichen Entscheidung schleichend unterhöhlt«, sagte sie. Nach dieser kulturpessimistischen Betrachtung steuerte sie rasch auf ein sehr protestantisches Lob der Demut zu. Sie endete mit dem tautologischen Satz des Apostels Paulus, den Martin Luther zum Kernbestand seiner Theologie machte und der sich mühelos in Merkels Politikverständnis einfügt: »Zur Freiheit hat uns Christus befreit.«
Der Vorgang erstaunt umso mehr, als die ostdeutsche Protestantin anders als viele ihrer westdeutschen Glaubensgenossen eine durchaus präzise Vorstellung von der Trennung zwischen Staat und Kirche hat. Nach ihrem Eintritt in die CDU habe sie Schwierigkeiten damit gehabt, »dass es vor den Parteitagen Gottesdienste gab«, sagte sie einmal. »Für mich waren Gottesdienste etwas Persönliches, Privates.« Noch heute klingt es stets sehr floskelhaft, wenn sie sich auf Parteitagen zu christlichen Werten bekennt. Niemand weiß, ob sie jenseits ihrer tiefen kulturprotestantischen Prägung in einem engeren Sinne gläubig ist. Nach ihrem Religionsverständnis hat das die politische Öffentlichkeit wohl auch nicht zu interessieren.
Als das Kölner Landgericht drei Jahre später die Beschneidung eines muslimischen Jungen zur strafbaren Körperverletzung erklärte und damit eine Debatte auch über jüdische Zirkumzision auslöste, reagierte Merkel ähnlich entschieden. Mit ihrer Papstkritik hatte sie aus irdischen Gründen in die Autonomie einer Religionsgemeinschaft eingegriffen, nun suchte sie umgekehrt einen religiösen Ritus gegen Einsprüche aus der weltlichen Sphäre in Schutz zu nehmen. Wieder ging es um die Verteidigung dessen, was sie als deutsche
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