Die Deutsche - Angela Merkel und wir
sich nicht mehr dem Zwangsdienst in Kaserne oder Pflegeheim unterwerfen müssen? Da ausgerechnet der Jungstar der Konservativen, Karl-Theodor zu Guttenberg, die Reform während einer Nachtsitzung im Kanzleramt handstreichartig anstieß, musste sich Merkel, die weiße Revolutionärin, nie dafür rechtfertigen. Nur so konnte sie wohl gelingen.
Mit der Furchtlosigkeit ihrer Anfänge begegnete Merkel zunächst dem großen Nachbarn im Osten: Russland. Hier vollzog sie zu Beginn ihrer Amtszeit einen deutlichen Kurswechsel. Ihr Vorgänger Gerhard Schröder pflegt bis heute eine Freundschaft mit dem russischen Staatspräsidenten Wladimir Putin und bescheinigt ihm in Interviews, er wolle aus Russland eine Demokratie machen. Merkel traf sich schon bei ihrem Moskauer Antrittsbesuch im Januar 2006 auch mit Oppositionellen. Putin revanchierte sich auf eigene Art: Er schenkte der deutschen Regierungschefin, die sich vor Hunden fürchtet, einen Stoffhund und ließ ein Jahr später bei einem Treffen mit der Kanzlerin im Badeort Sotschi seinen Labrador von der Leine.
Ähnlich verhielt sich Merkel gegenüber der chinesischen Führung. Im September 2007 empfing sie den Dalai Lama, Exilant aus dem von China okkupierten Tibet und Liebling der deutschen Öffentlichkeit – einschließlich des damaligen hessischen Ministerpräsidenten Roland Koch. Acht Monate später besuchte der religiöse Führer der Tibeter erneut die deutsche Hauptstadt. Diesmal wurde er von Entwicklungsministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul empfangen, ohne dass der sozialdemokratische Außenminister und Vizekanzler Frank-Walter Steinmeier etwas davon wusste. Es war einer der Momente, die den latenten außenpolitischen Konflikt in der großen Koalition offen ans Licht brachten. Anders als die Parteilinke Wieczorek-Zeul waren die Realpolitiker der SPD von Merkels Vorpreschen wenig erbaut. Sowohl der frühere Bundeskanzler Schröder als auch sein einstiger Amtschef Steinmeier hielten Merkel vor, ihr Verhalten schade deutschenInteressen und nutze am Ende auch den Menschenrechten nicht. »Man sollte auf Aktivitäten verzichten, die nur für die deutsche Öffentlichkeit bestimmt sind«, sagte Schröder. »Solche Rituale sind keine Basis für erfolgreiche Politik.«
Bei aller Kritik an Schröders gut dotiertem Beratervertrag mit einer russisch-deutschen Pipelinefirma darf man nicht vergessen, dass hinter der Pflege gutnachbarschaftlicher Beziehungen zu Russland alte deutsche, insbesondere in der Sozialdemokratie kultivierte Überzeugungen stecken. Dass sich Deutschland mit der Großmacht im Osten schon aus geopolitischen Gründen gut zu stellen habe, zählt zu den außenpolitischen Maximen eines Landes, dessen Bewohner sich vor dem Riesenreich im Osten immer noch ein wenig gruseln. Seit den Zeiten des Einheitskanzlers Helmut Kohl kam auch ein Stück Dankbarkeit hinzu: Kohl wusste, was er den Sowjets und ihren Nachfolgern mit der Zustimmung zur Wiedervereinigung, dem Abzug der russischen Truppen aus Mitteleuropa und der Osterweiterung des westlichen Militärbündnisses zugemutet hatte. Später kam noch der inzwischen aufgegebene amerikanische Raketenschirm hinzu.
Auf der Münchener Sicherheitskonferenz im Februar 2007 holte Putin zu einem rhetorischen Gegenschlag aus, der sich vor allem gegen die Amerikaner richtete, aber auch der deutschen Kanzlerin als deren Erfüllungsgehilfin galt. »Eine monopolare Welt, das heißt: ein Machtzentrum, ein Kraftzentrum, ein Entscheidungszentrum. Dieses Modell ist für die Welt unannehmbar«, sagte er erregt. »Es ist vernichtend, am Ende auch für den Hegemonselbst.« Am Morgen danach vollführte Egon Bahr, der sich gerade zu einer Diskussionsveranstaltung in Weimar aufhielt, im Hotel geradezu Freudensprünge: Endlich lasse sich Russland nicht mehr alles gefallen, was Amerika dem Land zumute. Der Architekt der Ostpolitik gilt in der SPD immer noch als eine Autorität in außenpolitischen Fragen. Für die Partei gehört das Prinzip »Wandel durch Annäherung« weiterhin zur programmatischen Grundausstattung.
Das zeigte sich erneut, als es im August 2008 zu einem militärischen Konflikt zwischen Russland und dem westlich orientierten Georgien um die abtrünnigen Republiken Südossetien und Abchasien kam. Die Moskauer Führung nahm für sich in Anspruch, die dortige Bevölkerung vor georgischen Übergriffen zu schützen. Damit machte sie sich das Argument der humanitären Intervention zu eigen, das sie beim westlichen Eingreifen im Kosovo
Weitere Kostenlose Bücher