Die Deutsche - Angela Merkel und wir
Staatsräson betrachtet. Der Eindruck, 67 Jahre nach dem Ende der nationalsozialistischen Diktatur solle jüdisches Leben in Deutschland auf dem Umweg über das Beschneidungsverbot wieder unmöglich gemacht werden, durfte nach ihrer Ansicht gar nicht erst aufkommen. So kam es in der CDU-Vorstandssitzung vom 16. Juli 2012 zu dem Wort von der »Komikernation«, von dem zu Beginn des Buches die Rede war.
Das Thema war der Kanzlerin so wichtig, dass sie ein halbes Jahr nach dem Kölner Urteil noch einmal ganz grundsätzlich darauf zurückkam, kurz bevor der Bundestag das Gesetz beschloss, das die Straffreiheit des Eingriffs sicherstellt. In ihrer Dankesrede für den Heinz-Galinski-Preis widmete sie lange Passagen der Beschneidungsdebatte. »Es ist traurig, dass es überhaupt dieses Gesetzes bedarf«, sagte sie, und sie kritisierte, dass »in manchen Äußerungen jede Hemmschwelle verloren zu gehen schien, Juden und Muslimen in Deutschland endlich einmal zu sagen, was gut für sie sei und was die anderen von ihnen hielten, wenn sie dem nicht folgten«. Am Umgang mit Minderheiten entscheide sich jedoch die Menschlichkeit einer Gesellschaft. Wo »gesunder Menschenverstand« nicht ausreiche, sei die Politik gefordert.
Ziemlich unvermittelt ging Merkel in der Rede von der Beschneidungsfrage zum Atomkonflikt mit dem Iran über. »Das führt uns auch zu der Frage, wie sich die politischen Gewichte in der arabischen Welt verschieben, welche Rolle der Iran spielt, dessen Atomprogramm wir mit größter Sorge sehen, oder wie sich die Lage in Syrien weiterentwickelt und was das alles für die Sicherheit Israels bedeutet«, sagte sie, und sie fügte hinzu: »Die Sicherheit Israels ist Teil der Staatsräson der Bundesrepublik Deutschland. Wir sind nicht neutral.« Es war sinngemäß der Satz, den sie schon fast fünf Jahre zuvor in ihrer Rede vor der Knesset geäußert hatte. Das war am 18. März 2008, Angela Merkel durfte als erste ausländische Regierungschefin vor dem israelischen Parlament sprechen. »Diese historische Verantwortung Deutschlands ist Teil der Staatsräsonmeines Landes. Das heißt, die Sicherheit Israels ist für mich als deutsche Bundeskanzlerin niemals verhandelbar«, sagte sie. Damals lautete der entscheidende Satz: »Und wenn das so ist, dann dürfen das in der Stunde der Bewährung keine leeren Worte bleiben.« Müssten deutsche Soldaten also gegen den Iran zu Felde ziehen, falls Israel einen Präventivkrieg gegen das Regime in Teheran beginnen sollte?
Der neu gewählte Bundespräsident Joachim Gauck wiederholte Merkels Formulierung nicht, als er im Mai 2012 dem jüdischen Staat eine seiner ersten Auslandsreisen widmete. »Wir stehen an Ihrer Seite, wenn andere die Sicherheit und das Existenzrecht Israels in Frage stellen«, sagte er lediglich. Von »Staatsräson« oder von einer »Stunde der Bewährung« sprach er nicht. Er forderte die israelische Regierung im Gegenteil dazu auf, von militärischen Aktionen abzusehen: »Wir unterstützen Sie, wenn sich Israel gemeinsam mit seinen Nachbarn bemüht, einen dauerhaften Frieden zu schaffen.« Nach einer Unterstützung auch im Krieg klang das nicht. Der Beifall einer deutschen Öffentlichkeit, die Merkels Zusage mehrheitlich als leichtfertig und gefährlich empfand, war dem Staatsoberhaupt sicher.
Die Reaktion auf Gaucks Absetzbewegung dürfte Merkel in ihrer Meinung über die Deutschen bestätigt haben. »Zur Lebenswirklichkeit heute gehört auch, dass antisemitische und fremdenfeindliche Ansichten in manchen Teilen unserer Bevölkerung unverändert auf Zustimmung stoßen«, sagte sie in ihrer Dankesrede für den Galinski-Preis. Fast 40 Prozent der Deutschen stimmten dem Satzzu, »dass viele Juden versuchten, aus der Vergangenheit des Dritten Reichs heute ihren Vorteil zu ziehen«, zitierte sie aus dem Antisemitismusbericht der Bundesregierung. »38,4 Prozent bejahten den Satz, sie könnten bei der Politik, die Israel mache, gut verstehen, dass man etwas gegen Juden habe«, fügte sie hinzu. »Ich habe deshalb durchaus Verständnis dafür, wenn angesichts dessen manch einer fragt, wie man als Jude hierzulande eigentlich offen leben kann.«
Die Zahlen unterscheiden sich nicht wesentlich von denen anderer Länder. In osteuropäischen Staaten wie Polen oder Ungarn sind die Werte deutlich höher, in westeuropäischen Ländern wie Großbritannien, Italien oder den Niederlanden etwas niedriger. Allerdings wurde der Mord an den europäischen Juden nicht in Warschau
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