Die Deutsche - Angela Merkel und wir
müssen wir besser sein als Chinesen, Inder, Brasilianer.
Auf dem Höhepunkt der Reformeuphorie sprach Merkel von der »neuen sozialen Marktwirtschaft«. Angesichts der Leipziger Beschlüsse zu Kopfpauschale oder Einfachsteuer konnte das nur so zu verstehen sein, dass die »neue« Marktwirtschaft weniger »sozial« sein sollte als die alte. Eindeutig formuliert hat Merkel das allerdings nie. Seit geraumer Zeit lässt sie den Zusatz wieder weg. Damit soll die »soziale Marktwirtschaft« erneut als der Konsensbegriff erscheinen, der sie in der alten Bundesrepublik gewesen ist. Jeder darf sich selbst aussuchen, ob er das Soziale lauter ausspricht oder den Markt. Damit ist daspolitische Spektrum von der Linkspartei bis zur FDP ebenso abgedeckt wie die fast so große Bandbreite innerhalb der eigenen Partei, vom Wirtschaftsflügel bis zur christlichen Arbeitnehmerschaft.
Das Bild, das Merkel 1990 von der Bundesrepublik entwarf, deckte sich nur bedingt mit der Selbstwahrnehmung der Westdeutschen. Zwar war der Begriff der »Marktwirtschaft« damals noch ausgesprochen populär, mit oder ohne den Zusatz »sozial«. Das galt aber nur in scharfer Abgrenzung zum »Kapitalismus«, der in Deutschland schon immer weit weniger beliebt war. Das Wort »Markt« stand für das Kleine und Überschaubare, für die Bauersfrau, die mittwochs und samstags vor dem Rathaus den selbst gezogenen Blumenkohl verkauft. Es stand für einen staatlich regulierten und gehegten Wettbewerb, der berechenbar blieb und für ehrliche Anstrengung ehrliches Geld versprach, also die eigene Leistung belohnte und nicht bloß den oft willkürlichen Erfolg. Die »soziale« Marktwirtschaft war mithin kein Widerspruch in sich, sondern die Fortsetzung dieser Leistungsgesellschaft mit anderen Mitteln: Wer in die Rentenkasse viel eingezahlt hat, bekommt hinterher viel heraus; wer viele Jahre lang gearbeitet hat, wird im Fall einer Kündigung entsprechend länger Arbeitslosengeld beziehen.
Ungleichheit war in einem solchen Bezugssystem akzeptabel, aber nur, solange dabei auch am unteren Ende der sozialen Skala ein Mehrwert heraussprang. Der langjährige Ministerpräsident von Mecklenburg-Vorpommern, Harald Ringstorff, verdeutlichte das gerne mit einem anschaulichen Bild. Angenommen, alle Leute im Land hättennur trockenes Brot zu essen. Was geschähe, wenn man ihnen allen zusätzlich Butter anböte – unter der Voraussetzung, dass einige wenige sogar Kaviar bekämen? Die meisten Ostdeutschen, so Ringstorffs These, gäben dann der Gleichheit den Vorzug und verzichteten auf die Butter. Die Westdeutschen hatten in den Jahrzehnten des Wirtschaftswunders mit dem Kaviar für die oberen Zehntausend kein Problem, weil sie sahen, dass tatsächlich genügend Butter für die kleinen Leute übrig blieb.
Dieser Glaube, dass sich gesamtwirtschaftlicher Erfolg auf den eigenen Geldbeutel überträgt, ist in den zwei Jahrzehnten seit der Wiedervereinigung geschwunden. An Überzeugungskraft eingebüßt hat auch das Versprechen auf gesellschaftlichen Aufstieg, das schon in der alten Bundesrepublik seltener eingelöst wurde als im Rückblick gern behauptet. Der Sozialstaat Adenauerscher Prägung kompensierte, wie schon Bismarcks Vorläufer, mit seinen statussichernden Leistungen auch fehlende soziale Durchlässigkeit. Wer selbst aufs Gymnasium gegangen war, brachte seine Kinder meist ebenfalls durchs Abitur, wie unbegabt sie sein mochten. Eltern aus bildungsfernen Schichten schärften ihrem Nachwuchs hingegen oft ein, er solle bei seinen Leisten bleiben. Das war für fast alle Beteiligten auch bequem – zumindest, solange an gering qualifizierten Jobs kein Mangel war.
Die Abneigung gegen den schrankenlosen Kapitalismus ist in Deutschland alt, sie umfasste alle politischen Lager. Die marxistische Linke würdigte ihn immerhin noch als Durchgangsstadium zum Sozialismus, mithin als historischen Fortschritt im Vergleich zur vormodernen Feudalgesellschaft.Viele Konservative und Liberale sahen in ihm dagegen den großen Zerstörer abendländischer Kultur. So ließ der liberale Historiker Theodor Mommsen in seiner »Römischen Geschichte« kaum eine Gelegenheit aus, über die »argen Sünden gegen Nation und Zivilisation« herzuziehen, die »in der heutigen Welt das Kapital« begangen habe. Der Import von Luxusprodukten aus allen Teilen der Welt, ein Ausdruck antiker Globalisierung, galt dem strengen Historiker und späteren Literaturnobelpreisträger als tadelnswert. Er rief sogar nach einer
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