Die Deutsche - Angela Merkel und wir
Art Sittenpolizei, die Austern und Wachteln von den Tischen der Reichen einsammeln sollte.
Bis heute ist sich eine große Mehrheit der Deutschen einig, wo die Übel des modernen Kapitalismus ihr geografisches Zentrum haben: in den Vereinigten Staaten von Amerika, die von der Kanzlerin so bewundert werden. Den Europäern mit ihrem Sinn für feine Unterschiede war die Herrschaft des Geldes, dieses großen Gleichmachers, suspekt. Als der Konservative Alexis de Tocqueville im frühen 19. Jahrhundert Amerika bereiste, staunte er über das Ausmaß an Gleichheit in der dortigen Gesellschaft. Hingegen vermisste er auf dem neuen Kontinent die altständischen Freiheiten, die seine Schicht im vorrevolutionären Europa genossen hatte. Der Historiker Mommsen sprach sogar von »Nordamerikas Drachensaat«, allerdings bezog er das vor allem auf die Sklaverei, die in der Mitte des 19. Jahrhunderts noch nicht abgeschafft war.
Ein ähnliches Urteil fällten die großen deutschen Soziologen Max Weber, Werner Sombart und Ferdinand Tönnies, die 1904 anlässlich eines internationalen Kongressesdie Neue Welt bereisten – die »Erfindung Amerikas in der Kulturkritik«, wie es der Historiker Georg Kamphausen nannte. Für das Land interessierten sie sich nicht besonders, denn ihr Urteil stand schon im Voraus fest: Kulturloses Erwerbsstreben habe jenseits des Atlantiks sittliche Werte an den Rand gedrängt. Darin sahen die Experten bereits eine Vorschau auf die triste Zukunft, die der Kapitalismus auch Europa bescheren werde. Die mechanisierten, rationalisierten, disziplinierten Abläufe von Bürokratie, Industrie und Massenkonsum würden das Individuum künftig seiner Freiheiten berauben, ungefähr so, wie es Charlie Chaplin drei Jahrzehnte später in seinem Film »Modern Times« vorführte.
In diesen Fragen war auch Merkels verstorbener Vater, der Pfarrer Horst Kasner, ein typischer Vertreter des deutschen Bildungsbürgertums. Auf einer Demonstration gegen den Bau einer Schweinemastanlage im uckermärkischen Hassleben rechnete er 2004 mit der Unmoral der Märkte ab. »Was zählt, ist das Geld. Für die Produzenten: Gewinne machen; ein ›Schweinegeld‹ verdienen. Und für die Konsumenten: Kaufen, möglichst billig kaufen und mehr als man braucht«, sagte er. »Marktwirtschaftlich sollen wir denken, wird uns eingehämmert, und nicht nachdenken. Alles soll Markt werden, auch die Natur. Mache dich frei von moralischen Bedenken.«
Auch die Vertreter des politischen Liberalismus schrecken hierzulande davor zurück, sich den Kräften des freien Marktes auszusetzen. Kein Minister der FDP, die unter dem Vorsitz Guido Westerwelles kompromisslos die Staatsferne predigte, hat je in einem Unternehmen derfreien Wirtschaft gearbeitet. Vertreten war die FDP im Kabinett zunächst durch den Amtsdirektor Rainer Brüderle, die Patentbeamtin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, den Bundeswehrarzt Philipp Rösler, den Zeitsoldaten und Arbeitsvermittler Dirk Niebel – und durch den Rechtsanwalt Guido Westerwelle, der vor seiner Parteilaufbahn nur drei Jahre in der Kanzlei seines Vaters praktizierte. Der Nachrücker Daniel Bahr hatte zwar in jungen Jahren eine Banklehre absolviert, wechselte dann aber direkt von der Hochschule in den Bundestag. Entsprechend realitätsfern und abgehoben klingen oft die Plädoyers dieser Politiker für radikale Marktfreiheit, zumal es in der politischen Praxis nicht selten darum geht, Rechtsanwälte, Ärzte oder Apotheker vom scharfen Wind des Marktes abzuschirmen.
Als großer Zähmer des Kapitalismus trat in Deutschland der Konservative Otto von Bismarck auf. Mit seinen Gesetzen über die Kranken-, Unfall- und Rentenversicherung legte er die Fundamente des modernen deutschen Sozialstaats. Und selbst Ludwig Erhard, der populäre Wortschöpfer der »sozialen Marktwirtschaft«, blieb nicht mit einem Freiheits-, sondern mit einem Gleichheitsmythos in Erinnerung. Einer verbreiteten Legende zufolge haben alle Westdeutschen ihren Weg ins Wirtschaftswunder mit der identischen Summe von 40 Mark begonnen, die Erhard bei der Währungsreform 1948 an sämtliche Bewohner der »Trizone« austeilen ließ.
Es sind nicht zufällig Außenseiter, die den Wert des Geldes wieder ins deutsche Bewusstsein rücken. Angela Merkel, die Lobrednerin des Kapitalismus, kam 1990 alsFremde ins politische System der Bundesrepublik. Hundert Jahre zuvor war es der jüdische Soziologe Georg Simmel, der in seiner »Philosophie des Geldes« über jene Freiheit
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