Die Deutsche - Angela Merkel und wir
oder London beschlossen, sondern in Berlin, das verleiht den deutschen Zahlen eine andere Bedeutung. Wenn sich Merkel auf diese Umfrage beruft, dann hält sie das von ihr regierte Volk offenbar zu beträchtlichen Teilen für historisch unbelehrbar. Dieser Vorwurf ist von anderem moralischen Gewicht als die Klage über eine mangelnde Reformfreude der Deutschen, die Merkel gleichfalls gern erhebt.
Das tiefe Misstrauen gegenüber der eigenen Bevölkerung war geradezu ein Kontinuum der deutschen Nachkriegspolitik. Schon die Verfassungsgeber von 1949 bauten ins Grundgesetz eine ganz Reihe von Sicherungen für den Fall ein, dass erneut eine Mehrheit der Deutschen für antidemokratische Parteien stimmen sollte. Von Adenauer bis Kohl sahen führende Politiker in der europäischenEinigung eine Garantie gegen mögliche Eskapaden der Deutschen. Die Skepsis gegenüber dem eigenen Land war in der Bundesrepublik lange Zeit das stärkste Motiv, eigene Souveränitätsrechte zugunsten eines größeren politischen Gebildes aufzugeben. Noch der Regierungsumzug nach Berlin wäre beinahe an der Furcht gescheitert, ein Umzug in die frühere Reichshauptstadt werde die Gespenster der deutschen Geschichte wieder auferstehen lassen. Spätestens seit dem Freudentaumel der Fußball-Weltmeisterschaft von 2006 galt die Gefahr vielen Beobachtern als gebannt. Zum ersten Mal seit der Reichsgründung von 1871 hätten die Deutschen ein entspanntes Verhältnis zu ihrer Nation gefunden, hieß es, fröhlich, friedlich und tolerant. Die Kanzlerin jubelte damals im Stadion kräftig mit, aber an dieses harmonische Ende der Geschichte glaubt sie offenkundig nicht.
Manche halten Merkels Bekenntnis zum deutschen Judentum und zum Staat Israel vor allem für einen Lerneffekt aus ihren Fehlern in der Affäre Hohmann, andere sehen darin eine ihrer wenigen politischen Überzeugungen. Wenn es einen solchen Kernbestand ihres politischen Denkens gibt, dann zählt dazu auch das Bekenntnis zu Kapitalismus und Marktwirtschaft.
KAPITEL 8:
KAPITALISMUS
Das Bekenntnis zum Westen mochte nicht erstaunlich sein für die Aktivistin einer ostdeutschen Partei, die fünf Tage zuvor ein Wahlbündnis mit der CDU geschlossen hatte. Aber die Art, wie sie diesen Entschluss mit rein ökonomischen Argumenten begründete, erstaunte doch – wenn man bedenkt, welche heimliche oder offene Verachtung viele Bürgerbewegte in der DDR gegenüber dem schnöden Mammon hegten. »Dreh- und Angelpunkt unserer weiteren Entwicklung ist die Konsolidierung der wirtschaftlichen Lage«, schrieb die Vertreterin des »Demokratischen Aufbruch« am 10. Februar 1990 in der Berliner Zeitung, die damals noch unter der Obhut der gerade umbenannten PDS erschien. »Wenn es uns nicht gelingt, im Rahmen einer neuen Wirtschaftsordnung Werte zu erwirtschaften, können wir im sozialen und ökologischen Bereich auch nichts verteilen.« Zum Beweis, dass sie sich wirklich eingearbeitet hatte, griff sie tief in die westdeutsche Geschichte der Nachkriegszeit zurück: »In dieser Hoffnungslosigkeit entwarfen Ludwig Erhard (CDU) u. a. (W. Eucken, F. Böhm und A. Müller-Armack) das phantastischanmutende Konzept, die Wirtschaft nur noch über den Wettbewerb und über den Markt zu steuern.«
Die Autorin hieß Angela Merkel. Sie war damals 35 Jahre alt – zu jung, um wie die meisten Bürgerrechtler in idealistischer Distanz zum Kapitalismus zu verharren, aber älter als das Gros der jungen Leute, die im Jahr zuvor mit ihrer massenhaften Flucht nach Westen das DDR-System zum Einsturz gebracht hatten. Sie hatten in der grauen DDR für sich keine Perspektive mehr gesehen und ganz ohne Erhard-Lektüre auf ihrer »Lust auf Konsum« beharrt, wie die Publizistin Susanne Leinemann schrieb. Dass die ostdeutschen Jugendlichen in ihrer Konsumorientierung den westdeutschen Altersgenossen ähnelten und gerade dadurch den politischen Umsturz bewirkten, nahm man in der Bundesrepublik seinerzeit kaum wahr. Dafür waren sie der West-Jugend äußerlich zu unähnlich und in den meisten Fällen auch schon zu erwachsen. Im Westen machte man sich über diesen Habitus gern lustig, das Titelbild einer Satirezeitschrift zeigte die 17-jährige »Zonen-Gaby« mit Dauerwelle und geschälter Gemüsegurke: »Meine erste Banane.« Über derlei Bedürfnisbefriedigung wähnten sich die Westdeutschen erhaben, erst recht in intellektuellen Kreisen. Sie hielten sich für postmodern, postheroisch – und postmaterialistisch. Sie konnten ihr politisches und
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