Die Deutsche - Angela Merkel und wir
einer in Deutschland sehr alten Alltagsmoral. Die Pointe ist, dass die Tugend der Enthaltsamkeit im Konsumkapitalismus neuen Typs kontraproduktiv wirkt. Der amerikanische Soziologe Daniel Bell beschrieb dieses Phänomen schon 1976 in seinemBuch Die kulturellen Widersprüche des Kapitalismus. Während der Einzelne in der Arbeitswelt seine Bedürfnisse zügeln solle, werde er in der Freizeit zum Hedonismus angehalten: »Man hat am Tage ›korrekt‹ und am Abend ein ›Herumtreiber‹ zu sein.« Die fortschreitende Vermischung beider Sphären, die damals kaum begonnen hatte, macht die Verhältnisse nicht einfacher. So ist die Ethik des Verzichts, die Merkels Vater angesichts der Schweinemastanlage predigte, heute kaum noch durchzuhalten. Jedenfalls würde ein solches Verhalten die Volkswirtschaft schädigen. Lässt die Konsumlaune der Bevölkerung nach, was in einer Überflussgesellschaft leicht passieren kann, greift der Staat mit Abwrackprämien ein. In der Sprache der Ökonomen formuliert: Unter den Nachwirkungen von Luthers Kapitalismuskritik leidet in Deutschland bis heute die Binnennachfrage.
Politisch sind Lob und Kritik des Kapitalismus kaum in ein Links-Rechts-Schema einzuordnen. Der Regisseur Nicolas Stemann, einer der politisch hellsichtigsten unter den jüngeren Theaterleuten, wies darauf 2008 in einem Streitgespräch mit seinen Kollegen aus der Achtundsechziger-Generation hin. Erst deren Revolte, so Stemann in der Zeitschrift Theater heute, habe mit dem Ruf nach der Emanzipation des Individuums der Konsumgesellschaft den Weg gebahnt. »War aber diese Bewegung nicht deshalb so erfolgreich«, fragte der Regisseur, »weil in ihr viele Bedürfnisse artikuliert wurden, die für einen neoliberalen globalen Kapitalismus sinnvoll sind?« Heute ruft in der Tat kaum jemand lauter als die Arbeitgeberverbände nach einer stärkeren Erwerbsbeteiligung von Frauen. DieWerbebranche rühmt die Konsumkraft der Kinderlosen, die unter den Achtundsechzigern allerdings gar nicht so zahlreich waren wie unter den »Yuppies« späterer Jahre. Und der einst heiß umstrittene Heimatbegriff der Konservativen ist durch die flexible Erwerbsgesellschaft längst zu einem liebenswerten Relikt geworden.
Verliefen nach 1968 gesellschaftliche und ökonomische Liberalisierung synchron, so ging zuvor der Konservatismus der Adenauer-Ära mit einem stark reglementierten Wirtschaftsleben einher. Völlig »frei«, wie Merkel in ihrem Artikel für die Berliner Zeitung suggerierte, war die Marktwirtschaft Ludwig Erhards nur im Vergleich zur NS-Kriegsökonomie, der Planwirtschaft der Sowjetischen Besatzungszone oder der alliierten Zwangsbewirtschaftung im ruinierten Westdeutschland. Im Vergleich zu heutigen Verhältnissen blieb die Wirtschaft der frühen Bundesrepublik in einem Maß reglementiert, das heute kaum noch vorstellbar ist. Seit 1957 bestimmte das »Gesetz über den Ladenschluss«, dass sämtliche Geschäfte Montag bis Freitag um 18.30 Uhr sowie samstags um 14 Uhr schließen mussten, die Sonntagsruhe war strikt einzuhalten. Bis zum Inkrafttreten des neuen Familienrechts im Jahr 1977 stand die Arbeitskraft von verheirateten Frauen dem Markt nur dann zur Verfügung, wenn der Ehemann seine schriftliche Einwilligung dazu gab. Der Verkauf von Briefmarken galt als eine hoheitliche Aufgabe, die nur von Beamten erledigt werden durfte, die Bahn war als Behörde organisiert, und die nationale Fluggesellschaft besaß ein Monopol. Die D-Mark ließ sich erst seit Anfang 1959 unbeschränkt in andere Währungen umtauschen, und dergemeinsame europäische Binnenmarkt mit der Freizügigkeit von Personen, Waren, Dienstleistungen und Kapital ließ bis 1993 auf sich warten.
Aus der Perspektive der DDR-Bürgerin hatte Merkel nicht wahrgenommen, wie reglementiert und sicherheitsorientiert das bundesrepublikanische System war. »Wir können nicht mit Risiken umgehen«, warf sie noch im Jahr 2005 den Deutschen ganz offen vor. »Das Sicherheitsbedürfnis ist extrem ausgeprägt, die Risikobereitschaft ist unterentwickelt.« Solche Sätze brachten der CDU-Vorsitzenden zeitweise den Ruf einer Neoliberalen ein. Aber selbst auf dem Höhepunkt ihrer Reformbegeisterung machte sie sich, anders als der Journalist Stephan Hebel jüngst in einem Buch behauptet hat, niemals ein geschlossenes wirtschaftsliberales Weltbild zu Eigen. Es war schlicht die biografische Prägung, die sie dazu brachte, die Regulierungen der alten Bundesrepublik mit fremden Augen zu betrachten, sie
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