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Die Deutsche - Angela Merkel und wir

Die Deutsche - Angela Merkel und wir

Titel: Die Deutsche - Angela Merkel und wir Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klett-Cotta Verlag
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ökonomisches System nur deshalb so hart kritisieren, weil sie es im Grunde als alternativlos ansahen. Bei den meisten Ostdeutschen war es umgekehrt: Sie wollten den Wohlstand des Westens, mehrheitlich wohl auch dessen Regierungssystem als politisches Mittel zum ökonomischen Zweck. Aber siemachten gerade die elementare Erfahrung, dass kein System eine Ewigkeitsgarantie besaß.
    Diese Erkenntnis nahm auch Merkel aus der Umbruchzeit mit. Die Schlussfolgerung, dass ein ökonomisch ineffizientes System zum Untergang verurteilt ist, zieht sich durch Merkels Äußerungen von 1990 bis heute. Vom Menschenrechtspathos ostdeutscher Bürgerrechtler oder westdeutscher Antikommunisten ist das weit entfernt. »Die Liebe zur Freiheit wäre auch in der alten Bundesrepublik ohne stabile D-Mark nicht so groß gewesen«, sagte sie einmal. Diese Perspektive entspricht der Art und Weise, wie in der alten Bundesrepublik jenseits von Festreden über den Osten gesprochen wurde, und sie folgt den historischen Fakten: Die kommunistischen Länder verloren den Wettlauf gegen den Westen vor allem ökonomisch. Ob bei besserer Wirtschaftslage und der Möglichkeit zu Urlaubsreisen der Verzicht auf Demokratie und Bürgerrechte zum Einsturz des Systems geführt hätte, bleibt auch mit Blick auf das heutige China eine offene Frage.
    Der umstrittenste Satz, den die Kanzlerin im Verlauf der europäischen Schuldenkrise sagte, gehört in diesen Zusammenhang. »Insofern werden wir Wege finden, die parlamentarische Mitbestimmung so zu gestalten, dass sie trotzdem auch marktkonform ist«, sagte Merkel am 1. September 2011 auf einer gemeinsamen Pressekonferenz mit dem portugiesischen Ministerpräsidenten. Ein Journalist hatte danach gefragt, ob die Mitwirkungsrechte des Bundestags die Schlagkraft des europäischen Stabilisierungsfonds EFSF beeinträchtigen könnten. Das Zitat wurde in der öffentlichen Debatte auf den Begriff der »marktkonformenDemokratie« verkürzt, der dann zum »Unwort des Jahres« gekürt wurde. Merkel artikulierte mit dieser Äußerung vor allem ihren Unmut über die bisweilen überzogenen Anforderungen der Deutschen an die Demokratie auf europäischer Ebene, während die Kungeleien zu Hause, etwa der Ministerpräsidenten im Bundesrat, sehr viel gnädiger bewertet werden. Aber ihre Überzeugung, dass sich der politische Erfolg eines demokratischen Systems von seiner wirtschaftlichen Leistungskraft nicht trennen lässt, steckt eben auch in diesen leichtfertig dahingesagten Worten.
    Der Mangel an ökonomischer Effizienz war für die Bürger der späten DDR nicht zu übersehen, erst recht nicht für eine Physikerin, die wegen veralteter Computertechnik ganze Tage mit dem Warten auf Rechenergebnisse vertat. Während der ersten beiden Nachkriegsjahrzehnte fiel die ökonomische Diskrepanz zwischen den Systemen noch nicht so stark ins Auge. Damals sorgte sich der Westen bisweilen, er könne diesen Wettlauf am Ende auch verlieren. Erst mit dem Wandel zur hedonistischen Konsumökonomie seit den Siebzigerjahren verlor die DDR den Anschluss. So erging es seither den meisten konservativhierarchisch organisierten Gesellschaften.
    Öffentlich machte Merkel von diesen Einsichten nur zurückhaltend Gebrauch. In ihren Ämtern als Frauenund Umweltministerin trat sie kaum als Wirtschaftspolitikerin hervor, obwohl die Themen starke ökonomische Bezüge hatten. Erst als die CDU-Vorsitzende nach Stoibers gescheiterter Kanzlerkandidatur von 2002 unter dem Druck stand, sich auf einem machtpolitisch zentralen Politikfeldmit klaren Standpunkten zu profilieren, stellte sie ihr Plädoyer für die Marktwirtschaft wieder in den Mittelpunkt. Im Wahlkampf 2005 erwies sich das Programm aber nicht als wählerwirksam, die Parteivorsitzende legte es deshalb erst einmal zu den Akten.
    Nach Ausbruch der Euro-Krise zog Merkel ihre wirtschaftspolitische Reformagenda wieder hervor, um unter dem Applaus des heimischen Publikums die Nachbarn auf dem Kontinent zu Wirtschaftsreformen aufzufordern. »Europa hat etwa sieben Prozent der Weltbevölkerung. Europa ist für knapp 25 Prozent der weltweiten Wirtschaftsleistung verantwortlich. Und Europa hat 50 Prozent der weltweiten Sozialausgaben«, so oder ähnlich sagte sie es in der Euro-Krise immer wieder. Das ist die Melodie, die sie allerorten anstimmt: Um nicht unterzugehen wie einst Erich Honecker mit seiner »Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik«, müssen wir das Geld für unseren Sozialstaat erst einmal verdienen,

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