Die Deutsche - Angela Merkel und wir
und Distanz schrieb, mit denen die abstrakteste aller menschlichen Erfindungen untrennbar verbunden ist. Für den Gebrauch des Geldes wie des Intellekts braucht der Mensch Distanz – jene Distanz, die nötig ist, um Dinge nüchtern und kritisch zu betrachten. »Der indizierte Partner für das Geldgeschäft«, schreibt Simmel, »ist die uns innerlich völlig indifferente, weder für uns noch gegen uns engagierte Persönlichkeit.« Am besten geeignet ist also der Fremde. Gerade wegen ihrer Fremdheit in der christlichen Umwelt habe das insbesondere auf jüdische Intellektuelle und Geschäftsleute zugetroffen, glaubte der jüdische Soziologe.
Die konservativen Massen begegneten einer solchen Geisteshaltung von Anfang an skeptisch. Schon im alten Athen, so Simmel, habe das Volk eine Aversion gegen den »Intellektualismus der Sophisten und des Sokrates« gehegt. Das »neue, unheimliche Machtmittel des Geistes« habe »seine aller überlieferten Schranken spottende Macht zuerst so oft im Niederreißen« gezeigt – »neutral und herzlos wie das Geld«. Doch der Vormarsch von Geld und Geist blieb unaufhaltsam. Geld ersetzte die persönlichen Bindungen der ständischen Gemeinschaft durch die anonymen Abhängigkeiten der modernen Gesellschaft. Die persönliche Lebensführung war nicht mehr durch Geburt und Einbindung ins Kollektiv bestimmt. Jeder, der über Geld verfügte, konnte über seinen Weg tagtäglich selbst entscheiden. Darin sah Simmel, gegen alle Kulturpessimistenseiner Zeit, den großen kulturellen Fortschritt. Eine ähnliche Erfahrung machten die Bürger der DDR: Mit Westgeld in den Händen waren sie nicht mehr auf die Willkür staatlicher Zuteilungen und persönlicher Beziehungen angewiesen.
Der amerikanische Historiker Steven Ozment hat versucht, die Politik der Kanzlerin in der Euro-Krise auf deren protestantische Wirtschaftsethik zurückzuführen. »Ihre Politik beruht unverkennbar auf einem enthaltsamen und opferbereiten Protestantismus, der zugleich barmherzig und fair ist«, schrieb Ozment im August 2012 in der New York Times. »Wer in einer Zeit der Not von der Gesellschaft nimmt, bekommt und profitiert, der hat eine moralische Verantwortung, es der Gesellschaft zurückzuzahlen.« Wie der Regierungschefin, so gehe es auch den meisten Bewohnern des von der Reformation geprägten Landes. »Sie halten strikt an ihrem Glauben fest, dass das menschliche Leben nicht in schnorrenden Städten und verschwenderischen Ländern gedeihen kann.« Tatsächlich ist Deutschland noch immer ein Land mit einer vergleichsweise hohen Sparquote, dessen Bewohner nicht sämtliche Früchte ihrer Arbeit kurzfristig konsumieren. Wenn überhaupt, dann geben sie ihr Geld am liebsten für werthaltige Anschaffungen wie Autos, Flachbildschirme oder teure Espressomaschinen aus, statt es wie die Italiener in gute Kleidung und ordentliches Essen umzusetzen und im Gegenzug ihren Espresso in der nächstgelegenen Bar einzunehmen.
Sehr klug ist das zwar nicht, denn kaum irgendwo ist der Anteil von Immobilienbesitzern an der Gesamtbevölkerungso niedrig wie in Deutschland, und mit kaum einem Konsumgut lässt sich in kurzer Zeit so viel Geld vernichten wie mit dem Auto, das den Deutschen traditionell lieb ist. Das hat Anfang 2013 auch eine viel beachtete Vermögensstatistik der Europäischen Zentralbank bestätigt. Aber der Bestand an toten Vermögenswerten sagt über die wirtschaftliche Dynamik eines Landes wenig aus, und es tut der Gültigkeit einer sozialen Norm keinen Abbruch, wenn sie durch Selbsttäuschung erfüllt wird.
Zu diesem Wertekanon gehörte für die erste Nachkriegsgeneration eine ans Pathologische grenzende Sparsamkeit. Heute ist in keinem Land der Preiskampf im Lebensmittelhandel so hart wie in Deutschland, wo Leute den Butterpreis bei Aldi und Lidl vergleichen und für ein paar Cent Ersparnis große Umwege in Kauf nehmen. Nicht Geldgier ist die treibende Kraft hinter solchen Butterfahrten, sondern ein festes Wertegerüst, das mangelnde Sparsamkeit als verwerfliche Nachlässigkeit diskreditiert. Wer den Sprit fürs Auto gedankenlos an einer beliebigen Tankstelle kauft, befindet sich bereits auf der schiefen Bahn zu einer haltlosen Existenz – es sei denn, er entscheidet sich bewusst für Markensprit, weil dieser dem Motor seines teuren Gefährts angeblich besser bekommt.
»Geiz ist geil«: Der Werbespruch einer deutschen Elektronik-Kette, der gern als Beleg für neue Untugenden herangezogen wird, entspricht in der Sache
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