Die Deutsche - Angela Merkel und wir
der noch ernst genommen wird«, wie er sich in einem Interview kokett titulieren ließ. In Wahrheit überwiegen die Parallelen zwischen den beiden populären Regierungschefs. Vielen Deutschen galten sie über lange Phasen ihrer Karriere als die richtigen Kanzler in der falschen Partei. Schmidt war während seiner Amtszeit vor allem auf der linken Seite des politischen Spektrums verhasst, Konservative ließen sich hingegen beeindrucken vom nüchtern-ruppigen Ton des früheren Oberleutnants, der den RAF-Terroristen kompromisslos gegenübertrat und sich für die atomare Nachrüstung einsetzte. Heute kommen die schrillsten Tiraden gegen Merkel von konservativer Seite. Bei den Anhängern von SPD und Grünen hielten sich die Beliebtheitswerte der Kanzlerin hingegen stets aufeinem beachtlichen Niveau, auch wenn sich das nicht in CDU-Stimmen ummünzen ließ.
Der Hanseat verdankte seinen Machterhalt nicht in erster Linie der Partei, sondern der politischen Anschlussfähigkeit seiner eigenen Person über vermeintliche Lagergrenzen hinweg. Das ist bei Merkel ähnlich. Sie profitiert wie schon Schmidt von einer besonderen Vorliebe der Bundesdeutschen für das Mittige und das Pragmatische. Strategien der Polarisierung haben seit 1945 nur noch dann verfangen, wenn sie den politischen Gegner erfolgreich unter den Verdacht des Extremismus stellten. So war es 1957 mit Adenauers Kampagne »Keine Experimente«, die sich gegen eine noch stark antikapitalistisch orientierte SPD richtete, und so war es mit Schmidts erfolgreichem Wahlkampf gegen den CSU-Herausforderer Franz Josef Strauß, der zumindest nördlich der Mainlinie als das abschreckende Gegenbild zu Schmidts hanseatisch-bürgerlicher Solidität galt.
Beide, Schmidt wie Merkel, traten ihr Amt in Phasen großer Reformernüchterung an. »Wir wollen mehr Demokratie wagen«: Mit diesem Satz hatte Schmidts Vorgänger Willy Brandt Erwartungen geweckt und notwendige Reformen angestoßen. Zum Zeitpunkt von Brandts Rücktritt 1974 galten sie als weitgehend gescheitert; die Erwartungen waren in Enttäuschung umgeschlagen. Auch Merkel verdankte ihr Amt 2005 vor allem einer großen Reformmüdigkeit der Deutschen.
Wer Visionen habe, solle zum Arzt gehen: Dieses gern kolportierte Schmidt-Zitat könnte genauso gut von Merkel stammen. Sie misstraut Politikern, die mit großem Pathosweit ausgreifende Zukunftsbilder malen, ob sie nun Barack Obama heißen oder Norbert Röttgen. Als frühere DDR-Bürgerin hat sie das Scheitern einer großen Utopie selbst erlebt. Stattdessen verwirklichte sich eine Zukunftshoffnung wie von selbst, an die zuletzt kaum noch jemand geglaubt und auf die auch niemand mehr zielstrebig hinarbeitet hatte: die Wiedervereinigung Deutschlands und Europas.
In ihrer Neujahrsansprache 2011 öffnete Merkel die Tür zu ihrem Weltbild einen Spalt breit. Sie zitierte den Philosophen Karl Popper, mit dem schon der Sozialdemokrat aus Hamburg seine Politik der kleinen Schritte gerechtfertigt hatte: »Die Zukunft ist weit offen.« Merkels politische Praxis lehnt sich eng an die Ideen Poppers an, den sie schon als DDR-Bürgerin las. Sie orientiert sich am Prinzip von Versuch und Irrtum, setzt auf eine Politik der kleinen Schritte und bleibt sich dabei stets bewusst, dass die Zukunft nicht planbar ist.
Die Kanzlerin könnte sich für ihr Handeln auch auf die Vertreter des Pragmatismus in der angelsächsischen Philosophie berufen. Sie geben der Praxis den Vorrang vor rein theoretischen Überlegungen. »Wahr ist das, was sich in seinen praktischen Konsequenzen bewährt«, formulierte der Harvard-Philosoph William James schon vor hundert Jahren in seinem Buch Pragmatismus. Dieses Verständnis von Wahrheit verzichtet auf Letztbegründungen, auf Dogmen und Ideologien. Wahr sei letztlich, was »am besten bestimmte Probleme lösen kann«, schrieb der in Stanford lehrende Richard Rorty 1997 in einem Sammelband über Wahrheit und Fortschritt . Überflüssig zu sagen,dass der 2007 verstorbene Rorty alles andere als ein Konservativer war.
Was Popper und die Pragmatiker formulierten, halten Dogmatiker aller politischen Richtungen für banal. In der Theorie mag das zutreffen, in der Praxis nicht. Die ganze Idee der westlichen Demokratie beruht darauf, dass es letzte Wahrheiten nicht gibt. Könnten politische Entscheidungen eindeutig »richtig« oder »falsch« sein, wären sie nicht durch Mehrheitsentscheidung zu ermitteln. Ob die deutsche Kanzlerin nun über ein festes Korsett politischer
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