Die Deutsche - Angela Merkel und wir
für Kohl stets unter Ideologieverdacht. Sie besaßen in seinen Augen nicht die pragmatischeFlexibilität, die man zum Wohle des Landes von den Regierenden einfordern musste. Diesen Glauben an die eigene Unersetzbarkeit scheint sich Merkel erst im Zuge der europäischen Krise zu erarbeiten – nicht weil sie ihre möglichen Koalitionspartner bei Rot und Grün für verblendet hielte, sondern weil ihr die handwerklichen Fähigkeiten des handelnden Personals, auch im europäischen Maßstab, bisweilen zweifelhaft erscheinen.
Jenseits einer wohlfeilen Freund-Feind-Rhetorik kultivierte Kohl nahezu perfekt jene programmatische Unbestimmtheit, die seiner politischen Enkelin gern vorgeworfen wird. »Drückte er selbst sich unscharf aus, war das ein kluger Verzicht auf vorzeitige Festlegungen«, schrieb Bahners 1998 über den noch amtierenden Bundeskanzler. »Was die Partei will, muss so allgemein wie möglich formuliert werden, damit möglichst viele es ebenfalls wollen.« Kohl hielt alles im Fluss und hegte eine Präferenz für das Diffuse. Damit er keine Erwartungen enttäuschen konnte, weckte er sie erst gar nicht. »Kein Gegner konnte aufstehen und das Gegenteil von dem wollen, was Kohl wollte«, schrieb Bahners. »Denn was Kohl wollte, ließ sich nicht mit einem Satz sagen, den man verneinen konnte.« Über grundsätzliche programmatische Festlegungen machte er sich auch offen lustig, etwa wenn es um das wirtschaftspolitische Vorgehen bei der Wiedervereinigung ging: »Es ist eine Sache, ob man die absolute Zustimmung der Ludwig-Erhard-Gesellschaft findet, und eine andere Sache, das politisch Richtige zu tun.«
Mit solch einer programmatischen Nonchalance taten sich Regierungschefs der politischen Linken meist schwer.Zur Legitimation seiner politischen Herrschaft ersann der frühere Bundeskanzler Gerhard Schröder stets neue Schlagworte, von der »neuen Mitte« am Beginn der rotgrünen Ära bis zur »Agenda 2010« an deren Ende. Selbst als er zwischenzeitlich Kohls Aussitzen imitierte, hielt er es für nötig, diese Phase als »Politik der ruhigen Hand« zu überhöhen. Das zerstörte sofort den Effekt: Wer offen über machtpolitische Tricks schwadronierte, der machte schon vor fünfhundert Jahren in der florentinischen Republik des Niccolò Machiavelli keine gute Figur.
Ein hohes Maß an Selbstdisziplin erfordern die machtpolitischen Manöver auch deshalb, weil sie die kurzfristige Optik oft verschlechtern. Das gilt vor allem für die Wahl des Bundespräsidenten. Hier lässt sich die Ästhetik des Amtes mit der Logik der Macht kaum versöhnen. Es handelt sich deshalb um eine der undankbarsten Entscheidungen, die der Regierungschef in der deutschen Kanzlerdemokratie zu treffen hat. Fast jedes Mal, wenn die Bundesversammlung zusammentrat, kam es zu größeren Peinlichkeiten. Schon Konrad Adenauer wollte 1959 erst den lästigen Wirtschaftsminister Ludwig Erhard in die Villa Hammerschmidt wegloben, dann brachte er sich selbst ins Spiel, schließlich präsentierte er als Notlösung den damaligen Landwirtschaftsminister Heinrich Lübke. Auch Kohl agierte »vor nahezu allen Präsidentenwahlen trotz großen Engagements glücklos«, wie Bahners schreibt: Vor der Wahl von 1969 brachte er noch von Mainz aus Richard von Weizsäcker in Stellung, konnte ihn aber nicht durchsetzen und schickte ihn fünf Jahre später in ein vergebliches Rennen gegen den sozialliberalen VizekanzlerWalter Scheel. 1979 und 1984 wurden ihm Karl Carstens und schließlich wiederum Weizsäcker als Kandidaten aufgenötigt, bevor er 1994 mit dem Sachsen Steffen Heitmann Schiffbruch erlitt und ihn kurzfristig durch Roman Herzog ersetzen musste.
Im Vergleich zu Kohls Fehlspekulationen schienen Merkel taktische Meisterleistungen gelungen zu sein, als sie 2004 den ehemaligen Sparkassenpräsidenten Horst Köhler zum schwarz-gelben Kandidaten kürte und 2010 ihren Widersacher Christian Wulff erfolgreich ins Schloss Bellevue abschob. Dass beide Kandidaten dem Amt am Ende nicht gewachsen waren, brachte Merkels Machtsystem kurzzeitig ins Wanken, gefährdete es aber zum Erstaunen aller langfristig nicht. Es verwundert trotzdem, dass Merkel auch nach dem Rücktritt Wulffs am erprobten Verfahren festhalten wollte: Sie erwog ernsthaft, das Amt abermals zu instrumentalisieren und den politisch allzu ambitionierten Verfassungsrichter Andreas Voßkuhle dorthin abzuschieben.
Der frühere Bürgerrechtler Joachim Gauck war der Kandidat der Opposition, schon deshalb konnte
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