Die Deutsche - Angela Merkel und wir
Die Intellektuellen, die sich über den Dialekt des Oggersheimers mokierten, sollten sich darüber erstaunlich lange täuschen.
Solch ein ausgeprägtes Ressentiment von linker Seite schlug Merkel nie entgegen. Um ihre Position innerhalb der eigenen Partei zu stärken, versuchte sie zeitweise geradezu verzweifelt, die alte Lagerkonfrontation wieder herzustellen – etwa in der Debatte um die Vergangenheit des Steinewerfers Joschka Fischer. Zum Hassobjekt der Linken machte sie sich damit auf Dauer nicht. Sympathie erregte schon der Umstand, dass es diese Frau aus dem Osten der konservativen Männerriege aus dem Westen gründlich zeigte.
Frisur, Kleidung und der brandenburgische Tonfall dieser Frau weckten in urbanen Milieus anfangs ähnliche Vorbehalte wie einst die Erscheinung Kohls. Anders als der Oggersheimer, dessen mundartliche Färbung tatsächlich von einer großen Ferne zu allem Intellektuellen zeugte, verkörpert sie den im Westen weitgehend ausgestorbenen Typus des allem Modischen abholden protestantischen Bildungsbürgers, der in der östlichen Nischengesellschaft die Zeitläufte besser überstand als im offenen Feld der westdeutschen Konsumgesellschaft. Die gesamtdeutsche Kanzlerin könnte der Gesellschaft jener kritischen und trotzdem angepassten DDR-Akademiker entsprungen sein, die den Roman Der Turm des Schriftstellers Uwe Tellkampbevölkert. »Ich denke, dass Angela Merkel gut in die Gesellschaft passen würde, die ich in meinem Buch beschreibe«, sagte Tellkamp 2012 in einem Interview – und bedauerte zugleich, dass Merkel den Turm aus Zeitnot nicht gelesen habe.
Eine Außenseiterin war die Physikerin damit auch in der Kleinbürgergesellschaft der DDR, was ihre anfangs sehr geringe Popularität in den östlichen Bundesländern erklärt. »Typisch ossimäßig finde ich weder Frau Merkel noch Herrn Gauck«, bemerkte auch der Autor Tellkamp. Allerdings fügte er hinzu: »Der Pragmatismus ist natürlich typisch für den Osten; diese ganze Improvisationskunst.« Wegen ihres unprätentiösen Auftretens schlugen weder Merkels Belesenheit noch ihre hochkulturellen Interessen negativ auf ihr Image durch. Schon Plutarch wusste, das Volk beargwöhne zur Schau getragene geistige Überlegenheit.
Unterschätzt wurde Merkel gleichwohl, auch nach ihrem Scheidungsbrief an Kohl von 1999, der solche Trugschlüsse eigentlich nicht mehr zuließ. Erstaunlicherweise galt das selbst dann noch, als ihre innerparteilichen Gegner längst in Anwaltskanzleien, Unternehmenszentralen oder Präsidentenschlössern auf dem Altenteil saßen. So machte die deutsche Kanzlerin dem französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy während der langen Nächte der Euro-Verhandlungen allen Ernstes klar, die Macht des Karlsruher Verfassungsgerichts und der Einfluss der deutschen Landesfürsten ließen ihr gar keinen machtpolitischen Spielraum für weitere Zugeständnisse. Sarkozy ließ sich von der Schmeichelei umgarnen, leider sei die deutscheKanzlerin bei weitem nicht so mächtig wie der Präsident der französischen Republik. Der frühere französische Minister Bruno Le Maire berichtet in seinen Erinnerungen, Sarkozy habe diese Sätze seinen Leuten stolz weitererzählt – und dabei gar nicht bemerkt, dass Merkel ihn aufs Kreuz gelegt hatte. Merkels unkompliziertes Auftreten konnte von einem französischen Präsidenten, dessen Repräsentationsbedürfnis noch aus den Zeiten des Sonnenkönigs herrührt, leicht als machtpolitische Schwäche interpretiert werden.
»Nur auf die Position kommt es an, nicht auf die mit ihr verbundenen Titel, Pfründe und Annehmlichkeiten«, schrieb Kohl-Interpret Bahners vor anderthalb Jahrzehnten. »Im Unverblümten des Machtwunsches spricht sich zugleich eine Art von Bescheidenheit aus.« Hier lässt sich mit Blick auf Merkel nichts hinzufügen. Die Konzentration auf die bloße Essenz von Macht ist kaum je so konsequent zu Ende geführt worden wie unter der Uckermärkerin im Kanzleramt. Wenn Merkel die Macht wie eine Molekularköchin auf ihre pure Essenz konzentriert, dann bleibt von inhaltlichen Festlegungen notwendigerweise nichts übrig. So machte es schon Kohl, der heute gern als konservativer Überzeugungstäter gesehen wird. Das Konservative verkörperte er nicht programmatisch, sondern in Habitus und Haltung.
Hinzu kam bei dem Pfälzer ein parteipolitisches Freund-Feind-Denken, das bei aller inhaltlichen Wendigkeit den eigenen Machterhalt als eine Frage von Leben und Tod betrachtete. Die »Sozen« standen
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