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Die Deutsche - Angela Merkel und wir

Die Deutsche - Angela Merkel und wir

Titel: Die Deutsche - Angela Merkel und wir Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klett-Cotta Verlag
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Gendarmenmarkt fand unmittelbar vor der ersten Verhandlungsrunde statt, die Koalitionsspitzen holten sich dort ihren Segen wie in einem Gottesdienst. Zwischendurch eröffnete Merkel das wiedererstandene Neue Museum gleich gegenüber ihrer Wohnung. Dort gab es schöne Bilder mitder Pharaonin Nofretete. Das politische Wirken der Ägypterin ist bis heute von Geheimnissen umwittert. Als sicher gilt: Neben Kleopatra verfügte sie von allen Politikerinnen des Altertums über das solideste Machtbewusstsein.
    Nie hat ein deutscher Kanzler so offensichtlich gegen seinen Koalitionspartner regiert wie Merkel in den ersten zwölf Monaten von Schwarz-Gelb. Merkel habe zur Abgrenzung von der FDP keine Wahl gehabt, fanden damals schon ihre Anhänger innerhalb und außerhalb der CDU. Guido Westerwelle sei ein Oppositionspolitiker gewesen, nicht regierungsfähig und übermütig nach der Wahl. Ein abrupter Imagewechsel, heißt es aus dieser Sicht, wäre Merkel zu diesem Zeitpunkt kaum bekommen. Es war ein Experiment, für das es keine Vorbilder gab. Sie war die erste deutsche Kanzlerin, die den Koalitionspartner austauschte – und der man den Sprung in ein drittes Bündnis zutraut. Die Regierungschefin, die zwischen den Koalitionspartnern wechselt wie bei den Jacken zwischen Lila, Pink und Grün: Es ist erstaunlich, wie sehr dieses Erwartungsmanagement die Politikwahrnehmung prägt.
    Nur einmal sah es aus, als habe sie sich festgelegt. Ein Jahr nach der Bundestagswahl hielt sie die bereits zitierte Rede für die Atomkraft und gegen die Stuttgarter Wutbürger. Für einen Moment wähnten die Hardliner sich am Ziel. Endlich sei Merkel zur Einsicht gekommen, sagten jene im Regierungslager, die Schwarz-Gelb für ein Projekt hielten – und jene in der Opposition, die sich nach klaren Fronten sehnten. Merkel habe nach einem Jahr erkannt, dass sie in der neuen Koalition nicht weitermachen könne wie bisher. Eine schwarz-gelbe Kanzlerin könne nicht erwarten,in allen politischen Milieus gleichermaßen populär zu sein. »Jetzt nimmt sie ihre Rolle als Parteikanzlerin an«, jubelte ein SPD-Mann, der sich schon auf ein Feindbild für den nächsten Lagerwahlkampf freute. »Das war die Abschiedsrede von der großen Koalition«, frohlockte ein Kollege von der FDP, der jetzt das schwarz-gelbe Projekt beginnen sah. Das war ein Irrtum. Einzig ein hellsichtiger Gesprächspartner aus der CDU relativierte damals schon: »Eine Rückkehr der Lager ist das nicht.«
    Es war nicht das erste Mal, dass sich Merkel neu erfand. Sie tat es, als sie sich zu Weihnachten 1999 vom Spendensammler Helmut Kohl lossagte. Sie machte es 2003, als sie die CDU beim Leipziger Parteitag auf Kopfpauschale und Bierdeckelsteuer festlegte. Es geschah nach der Bundestagswahl 2005, als sie aus dem Debakel des Paul-Kirchhof-Wahlkampfs Lehren zog und mithilfe der SPD zur Mitte rückte. Immer gab es Leute, die an Merkels Bekehrung zu einer Ideologie glaubten. So erging es Friedrich Merz, den sie in Leipzig mit den Steuerplänen einband. Der Irrtum unterlief auch Guido Westerwelle, der sich von der CDU-Chefin schwarz-gelbe Überzeugungen erhoffte. Mit Politik, wie die Regierungschefin sie versteht, hat das nicht viel zu tun. Auch die Verwandlung im Herbst 2010 gehorchte dem Gebot des Machterhalts. Wie sonst sollte sie die Landtagswahlen im folgenden Frühjahr überstehen?
    So wurde Merkel einen Winter lang zur schwarz-gelben Lagerkanzlerin. Sie vollzog den Schwenk aus Pragmatismus, nicht aus Ideologie. Sie traf zur gleichen Zeit auch Entscheidungen, die nicht in das konservative Schema passten, sie schaffte zum Beispiel die Wehrpflicht ab odererhöhte auf Geheiß der Verfassungsrichter die Sätze für Hartz-IV-Empfänger. Längerfristige Festlegungen konnte man von Merkel schon damals nicht erwarten. Von einer Rückkehr zum Leipziger Programm, von der endgültigen Häutung einer Kanzlerin mochte aber außer den freudig erregten Atomlobbyisten kaum einer sprechen. »Die wahre Merkel«, sagte damals einer, der lang mit ihr zusammenarbeitete, »die gibt es immer nur in Abhängigkeit von bestimmten Situationen.«
    Von situativem Regieren und gesundem Menschenverstand sprechen Merkel-Kenner, wenn sie den Regierungsstil beschreiben sollen. Es klingt nach dem gleichfalls in Hamburg geborenen Helmut Schmidt, auch wenn man sich Merkel noch nicht als regelmäßigen Talkshow-Gast in den Vierzigerjahren des 21. Jahrhunderts vorstellen mag. Schmidt gilt als »der einzige namhafte Merkel-Kritiker,

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