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Die Deutsche - Angela Merkel und wir

Die Deutsche - Angela Merkel und wir

Titel: Die Deutsche - Angela Merkel und wir Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klett-Cotta Verlag
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Überzeugungen verfügt oder nicht: Sie hätte ihren Beruf verfehlt, würde sie ihre Amtsführung allein von privaten Ansichten abhängig machen.
    So muss sich schon in der Antigone des Sophokles der kompromisslose thebanische König Kreon von seinem Sohn vorhalten lassen: »Wer nur nach seinem Sinn regiert, herrscht bald allein in einem leeren Land.« Das Stück, am Deutschen Theater Berlin in einer Antiken-Trilogie unter dem Titel Ödipus Stadt gezeigt, hat die Kanzlerin sehr beeindruckt, so sehr, dass sie sich anschließend mit dem Ödipus-Darsteller Ulrich Matthes bei Buletten zu einem Gespräch über das Wesen der Politik traf. Der Theaterabend bot den beiden offensichtlich genügend Gesprächsstoff. »Doch in der Not ist’s besser, auf den Rat der Zeit zu warten«, auch dieses Zitat des jungen, noch nicht dogmatisch erstarrten Kreon dürfte Merkel gefallen haben – und der alles relativierende Satz des blinden Sehers Teiresias ohnehin: »Wer kann hier stehen und von sich sagen, ich weiß, was kommt?«
    Das macht die Aufgabe nicht weniger anspruchsvoll, imGegenteil. Will die Regierungschefin ihr Amt behalten, darf sie sich einerseits nicht dauerhaft gegen große Zeitströmungen stellen. Andererseits darf sie sich nicht zur kurzfristigen Erfüllungsgehilfin des Mehrheitswillens machen, wie er den täglichen Meinungsumfragen zu entnehmen ist. Dazu sind die Launen des Volkes zu wechselhaft, wie wir seit Machiavelli wissen: Gibt eine Regierung heute dem Drängen nach höheren Staatsausgaben nach, steht sie morgen wegen ihrer Schuldenpolitik in der Kritik. Riskiert sie heute die Zukunft der europäischen Gemeinschaftswährung, wird sie morgen womöglich vom ökonomischen und politischen Chaos auf dem Kontinent hinweggefegt.
    »Der Umgang mit Macht ist eine Schule der Disziplin, da der Politiker auch seine eigenen Wünsche daraufhin prüfen muss, ob ihre Erfüllung seine Macht mehren oder mindern würde«, schrieb der Feuilletonist Patrick Bahners 1998 – in einem Buch über Helmut Kohl. Es liest sich über weite Strecken, als handele es von Angela Merkel. Schon für den 16 Jahre lang regierenden Pfälzer war das politisch Unbestimmte ein Erfolgsrezept. Sein Hang zum »Aussitzen« war nicht Trägheit, sondern unter Schmerzen erarbeitete Selbstkontrolle.
    Während der Phase seines Aufstiegs inszenierte sich Kohl als jugendlicher Rebell und Hoffnungsträger der Partei. Er kritisierte die schwarzen Spendenkassen des ersten CDU-Vorsitzenden Konrad Adenauer in den Parteigremien ähnlich scharf, wie es später Angela Merkel ihm gegenüber tun sollte. Als rheinland-pfälzischer Ministerpräsident pflegte er einen unprätentiösen Stil und ließ sichlieber mit »Herr Kohl« anreden statt mit »Herr Ministerpräsident«, wie sich auch Merkel bei ihren engen Mitarbeitern die Anrede »Frau Bundeskanzlerin« verbittet. Er scharte einen Stab von Modernisierern um sich, unter anderen seine Generalsekretäre Kurt Biedenkopf und Heiner Geißler. Der Journalist Günter Gaus erklärte Kohls Abneigung gegen die SPD 1967 mit dem Satz, die Sozialdemokraten seien dem aufstrebenden CDU-Politiker schlicht »zu konservativ«.
    Kohl wusste, dass ein jüngerer Politiker auf dem Weg in die Bonner Führungspositionen von Partei, Fraktion und Regierung den dynamischen Erneuerer geben musste und nicht den konservativen Bewahrer. Er verstand aber auch, dass mit dem Wechsel von Willy Brandt zu Helmut Schmidt die Phase der Großreformen in Deutschland erst einmal vorbei war. Deshalb führte er den Bundestagswahlkampf 1976 mit der Parole »Freiheit statt Sozialismus«, die an Adenauers Motto von 1957 erinnerte: »Keine Experimente.« Gerade weil sich Kohl systematisch das Image eines Erneuerers zugelegt hatte, konnte er mit umso größerer Überzeugungskraft darlegen, dass sich das Leben nun von der Politik erholen müsse. Dass nach dem Ende der rot-grünen Reformära eine ähnliche Zeitstimmung aufgekommen war, begriff Kohls politische Enkelin Angela Merkel sehr spät. Sie hat die Lehre dafür umso strikter befolgt.
    Als Kohl 1982 ins Kanzleramt einzog, überhöhte er den Regierungswechsel zu einer »geistig-moralischen Wende«. Das war eine Formulierung aus dem klassischen Repertoire der konservativen »Re-form« im wörtlichenSinn eines »Zurück-Formens« zu alten, vorgeblich besseren Verhältnissen. Aus einer solchen Allerweltsformel konnte politisch nichts folgen, zumal unter einem Kanzler mit einem derart pragmatischen Politikverständnis.

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