Die deutsche Seele
»Concordia« oder »Harmonia« nennen.
Auch wenn der Wegbereiter des schweizerisch-süddeutschen Chorwesens, der Musiklehrer Hans Georg Nägeli, Männern bescheinigt, dass sie »schärfere Lautierkraft« besäßen, während bei Frauen »das Ondulatorische« vorherrsche, kommen die Männergesangvereine in ihrer Entstehungsphase weniger martialisch als vielmehr treuherzig idealistisch daher: »Brüder, reicht die Hand zum Bunde! / Diese schöne Feierstunde / Fuhr’ uns hin zu lichten Höh’n! / Lasst, was irdisch ist, entfliehen, / Unsrer Freundschaft Harmonien / Dauern ewig, fest und schön.«
Die Musikwissenschaftler streiten darüber, ob das berühmte Bundeslied tatsächlich von Wolfgang Amadeus Mozart vertont worden ist. Tatsache ist, dass es nicht nur in Freimaurer-Logen gern gesungen wird. Die Überzeugung, dass der Gesang Männern Flügel verleiht, mit deren Hilfe sie sich über die alltägliche Niedertracht zu erheben vermögen, drückt sich auch in jenem vorbiedermeierlichen Volkslied aus, das bei kaum einem Sangestreffen unangestimmt bleibt: »Wo man singet, lass dich ruhig nieder, / Ohne Furcht, was man im Lande glaubt. / Wo man singet, wird kein Mensch beraubt; / Bösewichter haben keine Lieder.«
Erst in der Zeit der Befreiungskriege gegen Napoleon wird die »schärfere Lautierkraft« der Männerstimmen dazu eingesetzt, sich selbst Mut an- und den Franzosen Angst einzusingen. 1813 formiert sich in Preußen das »Lützowsche Freikorps«, ein wild entschlossener, halb offizieller Trupp aus Studenten, Schriftstellern und anderen Leitfiguren von Ludwig »Turnvater« Jahn bis hin zum empfindsamen Poeten Joseph von Eichendorff. Unter ihnen befindet sich auch der Dichter Theodor Körner, der noch im selben Jahr fällt. Er hinterlässt den Gedichtzyklus Leyer und Schwerdt, den der romantische Komponist Carl Maria von Weber zum männerchorischen Kultwerk erhebt: »Was glänzt dort vom Walde im Sonnenschein? / Hör’s näher und näher brausen. / Es zieht sich herunter in düsteren Reih’n, / Und gellende Hörner schallen darein, / Erfüllen die Seele mit Grausen. / Und wenn ihr die schwarzen Gesellen fragt: / Das ist Lützows wilde, verwegene Jagd!«
Im Oktober 1813 verliert Napoleon die Völkerschlacht bei Leipzig, die französische Armee muss sich hinter den Rhein zurückziehen, der Wiener Kongress macht sich daran, dem europäischen Festland eine neue politisch-territoriale Ordnung zu geben. Doch die deutschen Hoffnungen auf nationale Einheit und bürgerlichen Aufbruch werden enttäuscht: Zurück ins Jahr 1792, heißt die von Fürst von Metternich ausgegebene Devise. Die Restauration beginnt, die feudale Kleinstaaterei geht weiter. 1819 werden im Rahmen der Karlsbader Beschlüsse die von Friedrich Ludwig Jahn wenige Jahre zuvor als Mittel der nationalen Erhebung ins Leben gerufenen Turnvereine verboten, ebenso die studentischen Burschenschaften, deren erste sich 1815 in Jena gegründet hatte. Die Gesangvereine hingegen werden verschont. Obwohl sie demselben Geist verpflichtet sind, erscheinen die Sangesbrüder der Obrigkeit offenbar unverdächtiger als die Turner und akademischen Hitzköpfe. Oder sie wagt es schlicht nicht, einen Vereinstypus anzugreifen, der sich der hehrsten aller deutschen Künste, der Musik, verschrieben hat. Die unterdrückt brodelnde Nationalseele flieht ins Lied.
Überall im Land entstehen neue Gesangvereine. In Stuttgart wird 1824 der bis heute existierende »Liederkranz« aus der Taufe gehoben, der sich in seiner ersten Satzung darauf verpflichtet, die »Erinnerung an große Deutsche wachzuhalten«, wie etwa an Friedrich Schiller, mit dem mehrere der Gründungsväter freundschaftlich verbunden gewesen sind. Der süddeutsche »Liederkranz« gibt sich weniger elitär als die preußische »Liedertafel« - er lässt sogar einen »Frauenzimmerchor« zu. Beim ersten schwäbischen Sängerfest 1827 in Plochingen spielen die Frauenzimmer dann allerdings nur eine untergeordnete Rolle.
Unter dem wachsamen Auge der Zensur formuliert ein Festredner Ziel und Zweck der Veranstaltung: »Nicht nur Freude holt der Sterbliche aus des Gesanges kristallnem Hause, für das Höchste, Teuerste, was er kennt, für Glauben, Freiheit, Fürst und Vaterland wird hier sein Gemüt begeistert […] Er schwebt hoch über dem kleinlichen Streben, den ängstlichen Sorgen der Alltagswelt, er wird seinen Mitmenschen näher gerückt, und niedersinken vor des Gesanges Macht der Stände lächerliche
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