Die deutsche Seele
Schranken.«
Wenn sie auch an der Schranke zwischen Mann und Frau nicht wirklich rühren wollen, so geloben die Sangesbrüder, eine andere »lächerliche Schranke« niederzureißen: Der Frankfurter »Liederkranz« tritt bei dem von ihm veranstalteten deutschen Sängerfest 1838 mit der Parole an: »Ob er Christ sei, Jude, Heide; / Aus der Nähe, aus der Weite; / Volksmann oder Royalist, / wenn er nur ein Sänger ist!«
Im Gegensatz zur deutschen Burschenschaftsbewegung ist der Männerchor im beginnenden 19. Jahrhundert einigermaßen frei von Antisemitismus. Am »Hepp-Hepp«-Geschrei, mit dem ein vulgärer Mob Juden durch die Straßen jagt, wollen sich die Sangesbrüder nicht beteiligen. Der Stolz auf die gemeinsame Sprache, die Sehnsucht, in der Musik einen gemeinschaftlichen Ausdruck zu finden, übertönt religiöse Differenzen und dumpfe Vorurteile, die in der Hingabe an den Gesang ohnehin überwunden werden sollen.
Zur zentralen - wir würden heute sagen - »Integrationsfigur« wird der Komponist Felix Mendelssohn Bartholdy, dessen Vater, ein erfolgreicher jüdischer Bankier, seine Kinder taufen lässt und später selbst zum Protestantismus konvertiert. 1846 ist Mendelssohn der Chefdirigent des 1. deutsch-flämischen Sängerfestes in Köln. Ein Fackelzug geleitet ihn zu seiner Unterkunft, Trompetenfanfaren begleiten seinen Weg zum Dirigentenpult. Zur Eröffnung wird sein Festgesang an die Künstler nach einem Schiller-Gedicht uraufgeführt. Die jüdisch-deutsche Symbiose vollzieht sich im Geiste einer höheren Kunstreligion: »Von ihrer Zeit verstoßen, flüchte / Die ernste Wahrheit zum Gedichte / Und finde Schutz in der Kamönen Chor. / In ihres Glanzes höchster Fülle, / Furchtbarer in des Reizes Hülle, / Erstehe sie in dem Gesänge / Und räche sich mit Siegesklange / An des Verfolgers feigem Ohr.«
Mehr als zweitausend deutsch-flämische Männerkehlen lassen diese Ode an die Kunst erschallen. Völkerverständigende Sangesgigantomanie, lange bevor Gotthilf Fischer seine Chöre auf die Straße der Lieder schickt.
Nicht weniger größenverliebt geht es beim wichtigsten Sängerfest des Vormärz zu, das nur einen Sommer später am Fuße der Wartburg stattfindet. Zwei Tage lang wird auf Einladung des Thüringer Sängerbundes gesungen, werden Reden gehalten, finden Festparaden statt. Die Bahn setzt auf dem soeben fertiggestellten Streckenabschnitt von Halle nach Eisenach Sonderzüge ein. Bier fließt in Mengen. Der Ort ist mit Bedacht gewählt: 1817 hatte das erste Wartburgfest stattgefunden, zu dem damals die Jenaer Urburschenschaft alle national gesinnten Studenten gerufen hatte. Bei beiden Festen wird Martin Luther, der auf der Wartburg im Herbst 1521 das Neue Testament übersetzt hatte, als »Sieger über die geistige Knechtschaft«, als Begründer der einheitlichen deutschen Sprache gefeiert. Der zweite Tag des Sängerfestes wird mit dem berühmten Luther-Lied Ein’ feste Burg ist unser Gott eröffnet.
Der Schatten der Wartburg eignet sich nicht nur, um dem Schöpfer des deutschen Kirchenliedes zu huldigen. Der Pfarrer und Volkspädagoge Heinrich Schwerdt, der das Sängerfest leitet, verpflichtet wiederum Felix Mendelssohn Bartholdy und setzt den Echo-Chor von Carl Maria von Weber aufs Programm. Tausende Männer singen: »Im Wald, im Wald, / Im frischen, grünen Wald, / Im Wald, wo’s Echo schallt, / Da tönet Gesang und der Hörner Klang / So lustig den schweigenden Forst entlang! / Trara, trara! Trara, trara, trara!« Und siehe da, in der felsigen Senke, auf dem Festplatz unterhalb der Wartburg, tönt’s tatsächlich aus dem Wald zurück. Romantische Verschmelzung von Mensch und Mensch, von Masse und Natur.
Auch einer der wichtigsten Festredner, der liberale Politiker Oskar von Wydenbrugk, Mitglied des Weimarer Landtags und ein Jahr später Mitglied der Frankfurter Nationalversammlung in der Paulskirche, bemüht die Natur, um leidenschaftlich zu versichern, dass »das ganze deutsche Volk im Geist und Gemüt« trotz aller sichtbaren Verästelungen verbunden sei: Es gleiche einem Baum, dessen Wurzeln »die gemeinsame Sprache und das gemeinsame Lied« seien.
Neun Jahre bevor Deutschland mit der Reichsgründung die lange ersehnte nationale Einheit gewinnt - wenn auch nicht in der demokratischen Verfassung, für welche die Revolutionäre von 1848 / 49 gekämpft hatten -, schließen sich die Sängerbünde Deutschlands und Männergesangvereine der im Auslande lebenden Deutschen zum Deutschen Sängerbund
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