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Die deutsche Seele

Die deutsche Seele

Titel: Die deutsche Seele Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thea Dorn
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Walser, Milo Dor; stehend: Ingeborg Bachmann, Ilse Aichinger, Christopher Holme, Christopher Sykes.
    Kapitalwirtschaft. Es war die Verwechslung von Himmelspforte und Zellentür.
    Der Begriff der »Kulturnation« bekam nun eine direkte politische Aufgabe: Vor dem Hintergrund der deutschen Teilung geriet er zur diplomatischen Floskel. Man konnte via Kulturnation die Einheit der deutschen Kultur ansprechen, ohne die Existenz der DDR in Frage zu stellen.
    Damit wird die Kulturnation zum Verlegenheitsbegriff. Sie dient in Notsituationen dazu, die Differenzen zu entschärfen. Mit der Kulturnation werden Gräben überbrückt, die politisch nicht zu überschreiten wären. Und damit ist bei Weitem nicht nur der Ausnahmezustand des Kalten Kriegs gemeint, sondern auch das ganz gewöhnliche deutsche Zuordnungsmuster: dass der Georg-Büchner-Preis, die wichtigste deutsche Literaturauszeichnung, auch an Schweizer und Österreicher vergeben wird; dass Radio Luxemburg deutsche Sendeplätze zur Verfügung stehen; dass das Schweizer und Österreichische Fernsehen im 3sat-Kulturprogramm dabei sind und vieles mehr.
    BRD-kritische Schriftsteller argumentierten 1990 gegen die Wiedervereinigung auch damit, dass eine Kulturnation genüge. Günter Grass wollte plötzlich sogar wie einst Fichte Europäer sein. Martin Walser hingegen, Parteigänger der deutschen Einheit ohne Wenn und Aber, bezeichnete 1988 die Kulturnation barsch als »Abfindungsformel«. Für ihn stellte sie eine Gefahr für die Wiedervereinigung dar. Anders Günter de Bruyn, der Schriftsteller aus dem Osten Deutschlands, Chronist des bürgerlichen Preußen, der die Kulturnation als Ergänzung zur Staatsnation betrachtet.
    Was aber ist heute, wo alle Länder deutscher Herkunft innerhalb des Schengengebietes liegen, der Begriff »Kulturnation«? Die deutsche Einheit ist vollendet, und der Faschismus ist ausgeblieben. Dass die Kulturnation aber auch jetzt wieder zum aktuellen Thema wird, hat mit der Integrationsproblematik zu tun. Eine Nation muss die Fähigkeit besitzen, die Bedingungen der Zugehörigkeit zu formulieren. Diese aber gehen über den verfassungsrechtlichen Aspekt hinaus und sind kulturell zu verstehen.
     
    >Doktor Faust, E(rnst) und U(nterhaltung), Feierabend, Musik, Pfarrhaus, Querdenker, Reformation

Männerchor
     
    Auf der ganzen Welt gibt es Männer. Und fast überall kann es passieren, dass diese Männer zu singen beginnen. Der Weltmusikreisende hat gregorianische Mönchsgesänge aus Spanien oder die schmissig-tristen Melodien der Wolga Kosaken im Ohr. Dennoch gibt es eine Art von Männergesang, eine vielstimmige Verbrüderung vom tiefstem Bass bis zum höchsten Fisteltenor hinauf, da steht der Lauschende sofort im Wald, noch bevor er ein einziges Wort verstanden hat: Vorn streift der Jäger mit seinem munterem Horn durchs Unterholz, während hinten der Rhein vorbeiströmt. Deutschland-Skeptikern gilt der Männerchor deshalb als klingende Verkörperung des Furchtbar-Teutonischen: Harmonium und Männerchor - so stell’ ich mir die Hölle vor …
    Der sozialdemokratische Krimiautor Hansjörg Martin widmet dem Männergesangwesen 1981 einen Roman, in dem Das Zittern der Tenöre nicht nur damit zu tun hat, dass die Sangesbrüder einer deutschen Kleinstadt in die Jahre kommen, in denen ihre Stimmen brüchig werden, sondern der gemeinsam verdrängten braunen Vergangenheit geschuldet ist. So vordergründig diese Engführung ist, so richtig ist der Verdacht, dass es sich beim deutschen Männerchor nie um eine reine Kunstanstrengung gehandelt hat. Von Anfang an ist er auch politisches Instrument.
    Im Januar 1809 gründet der Komponist und Musikpädagoge Carl Friedrich Zelter, der bereits der »Sing-Akademie«, der ältesten gemischten Chorvereinigung der Welt, vorsteht, mitten im napoleonisch besetzten Berlin den ersten exklusiven Männerchor. Die »Liedertafel« orientiert sich am Vorbild von Artus’ Tafelrunde. Einmal im Monat treffen sich Bürger und Adlige patriotischer Gesinnung, um »bei einem frugalen Mahle in deutscher Fröhlichkeit und Gemütlichkeit edle Geselligkeit« zu pflegen und Lieder zu singen, die aus der Feder der eigenen Mitglieder als Dichter oder Komponisten stammen. Die Ablehnung von »welschem [sprich: italienisch-französischem] Tand« geht Hand in Hand mit der Sehnsucht, die innerdeutschen Schranken zu überwinden: seien es solche des Standes oder des Landes. Es ist kein Zufall, dass spätere Männergesangvereine sich bevorzugt

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