Die deutsche Seele
Bühne erheben. Ein Sprecher kündigt an: »Achtung! Achtung! Wir singen heute nicht diese üblichen Chorstücke, die Sie sicher schon oft gehört haben.« Es folgt eine musikalisch raffinierte Verballhornung des Kirchen-, Natur- und Liebeslieds, die in einer Variation auf die beliebte Loreley von Heinrich Heine und Friedrich Sucher gipfelt: »Ich weiß nicht, was soll es bedeuten …« Mit schneidender Stimme unterbricht der Sprecher den Gesang: »Denn wir wissen, was das bedeutet!« Und der Chor sekundiert: »Das heißt sich abwenden von der Wirklichkeit. Das heißt sich abwenden von der Forderung des Tag’s. Das heißt sich abwenden von unserm Kampf. Auch unser Singen muss ein Kämpfen sein!« Selbst wenn das Chorwerk mit einer Anspielung auf die Internationale endet: Im angestrengt didaktischen Gestus des Stücks drückt sich etwas ebenfalls zutiefst Deutsches aus.
Mit der Machtergreifung Hitlers müssen die roten Sänger die Straße, die auch sie zu ihrem Kampfplatz gemacht hatten, den braunen Horden überlassen, die jetzt ungehindert singen dürfen: »Es zittern die morschen Knochen / Der Welt vor dem roten Krieg, / Wir haben den Schrecken gebrochen / Für uns war’s ein großer Sieg …«
In einer verzweifelten Anstrengung versucht Eisler gemeinsam mit Brecht, bereits aus dem Exil heraus dem braunen Schreckensregime doch noch mit rotem Kampfgesang zu begegnen. Für die i. Arbeitermusik- und Gesangsolympiade, die im Juni 1935 in Straßburg stattfindet, texten und komponieren sie das Einheitsfrontlied, das die zersplitterten linken Gruppierungen endlich zusammenschweißen soll: »Drum links, zwei, drei! / Drum links, zwei, drei! / Wo dein Platz, Genosse, ist! / Reih dich ein in die Arbeitereinheitsfront / Weil du auch ein Arbeiter bist.« Dreitausend singende »Proleten« aus den verschiedensten Ländern, Männer und Frauen, schmettern im Herzen Europas das Lied in den sich verdüsternden Himmel - und dennoch vermag die Sangeseinheit das politische Band, um das es mit anderen Vorzeichen schon den Sängerkämpfern des Vormärz gegangen war, nicht fester zu schlingen.
Im Rückblick weiß man nicht, was mehr erschüttert: die idealistische Naivität, der (alte deutsche) Glaube, das Rad der Geschichte durch Gesang herumreißen zu können - oder die blinde Hoffnung, dass eine rote Einheitsfront das Heilmittel gegen die braune Einheitsfront sein könne, dass »Drum links, zwei, drei! Drum links, zwei, drei!« die richtige Antwort auf die »fest geschlossenen Reihen« des Horst-Wessel-Lieds sei.
Nach dem Zweiten Weltkrieg ist die Zeit des heroisch singenden Mannes in beiden Teilen Deutschlands vorbei. Im Osten macht sich Hanns Eisler im Auftrag des SED-Regimes daran, die Nationalhymne zu komponieren. Reiner Männergesang hat im sozialistischen Einheitsstaat keine Funktion mehr. Ebenfalls gemeinsam mit Johannes R. Becher versucht Eisler, Neue deutsche Volkslieder zu schaffen. Zwar nehmen die beiden auch diesen Auftrag ernst: Titel wie Deutsche Heimat, sei gepriesen oder Wieder ist es Zeit zum Wandern belegen dies. Allerdings gelingt es dem neudeutschen Liedgut nicht, in der Sängerseele Wurzeln zu schlagen. Die träumt nach allen Verwüstungen und Schuldverstrickungen mehr denn je vom Lied aus alten Zeiten.
Im Westen ziehen sich die Männergesangvereine, die sich mit dem Nationalsozialismus arrangiert hatten, in muffige Hinterzimmer zurück. In seinen neuen Satzungen kann sich der (West-)Deutsche Sängerbund nicht entscheiden, ob seine Ziele »auf Frieden, Freiheit, Freude zwischen den deutschen und allen sangesfrohen Menschen diesseits und jenseits der Grenzen gerichtet« sind (1949) - oder ob er durch »die einigende Kraft des deutschen Liedes […] das deutsche Volksbewusstsein stärken, die Gemeinschaft aller Volksschichten fördern und das Gefühl der Zusammengehörigkeit der deutschen Stämme kräftigen« will (1952). Erst 1975 heißt es lapidar: »Der DSB bekennt sich zum Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland.« Das beruhigt das demokratische Gemüt. Aber was soll es bedeuten? Klingt die Loreley anders, wenn sie im Geiste des Grundgesetzes vorgetragen wird?
Eine bizarre Auswirkung haben die Bemühungen, den deutschen Männergesang vom Ruch des Völkischen zu reinigen: Die Chöre von Felix Mendelssohn Bartholdy, erst von den Nazis aus den Konzertprogrammen gestrichen, weil sie ihnen als jüdisch galten, verschwinden in der Bundesrepublik abermals aus dem Repertoire - dieses Mal, weil sie zu deutsch
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