Die deutsche Seele
zusammen. Und als ahnten sie, dass die Vereinigung, die sie chorpolitisch vorgemacht haben, bald auch auf der großen politischen Bühne geschehen wird, verkünden die Schwarz-Rot-Gold-Kehlchen selbstbewusst in ihrer Satzung: »Durch die dem deutschen Lied innewohnende einigende Kraft will auch der Deutsche Sängerbund in seinem Teile die nationale Zusammengehörigkeit der deutschen Stämme stärken und an der Einheit und Macht des Vaterlandes mitarbeiten.«
Die allumarmende Sangesbrüderlichkeit ist indes von kurzer Dauer: Schon in den 1870er Jahren flattern die Rotkehlchen davon, um neue, sozialdemokratisch bis sozialistisch gestimmte Gesangvereine zu gründen, die auch den einfachen Arbeiter auf die Flügel des Gesanges erheben. Statt »Concordia« nennen sie sich »Einigkeit«, statt »Harmonia« »Freiheit« oder »Vorwärts«. Gesungen wird zunächst allerdings dasselbe sakralbildungsbürgerliche Repertoire von Händel bis Beethoven, die romantischen Chorwerke von Schubert und Schumann; Volkslieder wie das Annchen von Tharau oder die Loreley lassen gerade das proletarische Herz, um das sich die Krallen des maschinellen Fortschritts immer unbarmherziger legen, von alten Zeiten träumen.
Einen neuen, eigenen Typus von deutschem Arbeitergesang, der Schluss macht mit den »Kollektivcarusos«, die ihren »Bekannten und Verwandten ein schönes Liedlein vorsingen, um sie in süße Träume zu versetzen«, entwickelt erst der in Leipzig geborene und in Wien aufgewachsene Komponist Hanns Eisler.
In der Metropole der musikalischen Avantgarde gehört es nach dem Ersten Weltkrieg zum guten Ton, dass die Granden wie Arnold Schönberg oder Anton Webern nicht nur die Musentempel stürmen, sondern auch die Arbeiter-Singvereine revolutionieren. Das gesangliche Niveau ist hoch: In seinen ersten Kompositionen für Männerchor aus dem Jahre 1925 schreckt Eisler weder vor komplizierten Rhythmen noch scharfen Dissonanzen zurück. Neue Wiener Schule goes Agitprop. Die entsprechend kämpferisch-doppelbödigen Texte findet der Komponist bei Heinrich Heine: »Deutscher Sänger! Sing und preise / Deutsche Freiheit, dass dein Lied / Unsrer Seelen sich bemeistre / Und zu Taten uns begeistre, / In Marseillerhymnenweise. // Sei nicht mehr die weiche Flöte, / Das idyllische Gemüt - / Sei des Vaterlands Posaune, / Sei Kanone, sei Kartaune, / Blase, schmettre, donnre, töte!«
Dagegen sieht die altdeutsche Männerchorbewegung in der Tat alt aus. Markige Texte aus dem 19. Jahrhundert hat zwar auch sie zu bieten: »Du herrlich deutscher Männerchor, / Lass deine Lieder brausen! / Auf! Bringe in der Feinde Heer / Entsetzen, Nacht und Grausen.« Aber wer kennt heute noch den Wortschmied Heinrich Stein oder den Tonsetzer Richard Genee?
Der letzte Großmeister, der ein Männerchorwerk im deutsch-nationalen Geist komponiert, ist Anton Bruckner. Zum 50. Jubiläum des (bürgerlichen) Wiener Männergesang-Vereins wird 1893 sein symphonischer Chor Helgoland uraufgeführt. Die österreichischen Sangesbrüder verklären das tapfere sächsische Inselvolk, das mit Gottes Hilfe die drohende römische Invasion abzuwehren vermag. Dass es sich bei dem Besungenen um einen realen historischen Vorgang handelt, ist zweifelhaft. Aber darum geht es auch nicht: Entscheidender Auslöser für die Komposition dürfte gewesen sein, dass die Nordsee-Insel wenige Jahre zuvor vom Vereinigten Königreich Großbritannien ans Deutsche Reich zurückgegeben worden war. Diese von Österreichern dargebrachte deutsche Triumph-Kantate ist das Ende einer Tradition. Nach ihr bringt künstlerisch ernst zu nehmende Kampf gesänge nur noch die Linke hervor.
Im Herbst 1925 geht Eisler nach Berlin. Dort wird er endgültig zum bekennenden Kommunisten, sucht die Nähe zur KPD, wird zu dem Vorreiter des deutschen Arbeiterkampflieds. Er bricht mit seinem »Meister« Schönberg, bei dem er studiert hat, kritisiert dessen elitäres Kunstverständnis, das besagt: »Wenn es Kunst ist, dann ist es nicht für die Menge. Und wenn es für die Menge ist, dann ist es nicht Kunst.«
In dichter Reihenfolge verfasst Eisler proletarische Kampflieder wie Der Rote Wedding, das Komintern- und das Stempellied. Sein Werk für gemischten Chor Auf den Straßen zu singen ist programmatisch gemeint - uraufgeführt wird es dann allerdings doch im Konzertsaal der Hochschule für Musik.
Noch bevor die Zusammenarbeit mit Bertolt Brecht beginnt, lässt der Komponist den klassenkämpferischen Zeigefinger auf der
Weitere Kostenlose Bücher