Die deutsche Seele
Weltliteratur stünde ärmer da, würde es aber verkraften, entfernte man aus ihr alle deutschen Epen, Gedichte, Dramen, Erzählungen und Romane. Die bildende Kunst würde den Verlust aller deutschen Gemälde und Skulpturen kaum bemerken. Jene Musik hingegen, die man heute etwas ungenau als »Klassik« bezeichnet, ist ohne die Werke, die vom Beginn des 18. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts im deutschen Kulturraum entstanden, unvorstellbar.
Die Frage nach der Musik führt ins Innerste der deutschen Seele.
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»Bei einer andächtigen Musique ist allezeit Gott mit seiner Gnaden Gegenwart.«
Von Anfang an war Musik in Deutschland eine ernsthafte Angelegenheit. Die mittelalterlichen Minnesänger musizierten weniger aus Lust an der Freude als vielmehr deshalb, weil sie ihrer Lust nicht anders Lauf lassen durften. Statt nach der Edelfrau griffen die Ritter der Sublimation zur Leier. Dabei allerdings erlaubten sie sich deutlich größere Freiheiten als ihre französischen Kollegen. Während die Troubadoure auf eher starren Versfüßen durchs Land klapperten, gaben die Minnesänger ihrem Sehnen in fließenderen Melodien Ausdruck: das deutsche Urerlebnis, dass Musik ungezwungen aus den Tiefen der Seele strömen soll. Dasselbe gilt für das Volkslied, das seit dem Beginn des 14. Jahrhunderts zu blühen begann: Auch hier neigten die Deutschen dazu, wildere Tonsprünge zu machen als ihre sangeslustigen Nachbarn.
Einen krassen Gegensatz bildeten die Meistersinger, die sich mit dem Niedergang des Rittertums zu den ersten »bürgerlichen« Gesangsverwaltern machten. Sie übertrugen all ihr Schuster-, Schneider- und Schreinerethos mit solch peinlicher Genauigkeit auf die Musik, dass es Richard Wagner dreihundert Jahre später in seinen Meistersingern von Nürnberg nicht schwerfiel, sich über die kleinkarierten Versschmiede lustig zu machen, die den Gesang einer strengen »Tabulatur« unterwarfen und sogar einen »Merker« einsetzten, der jede Regelabweichung durch lautes Klopfen mit dem Stock rügte. Kein Zweifel: Wagners Herz schlug für den jungen Ritter, der gegen die »Meister-Kräh n« seine »Begeistrungs-Glut« zum Quell der Musik erklärt. Trotz allem Spott, den Wagner über den Beckmessereien ausgoss: Am Schluss seiner Oper ließ er »die deutschen Meister« hochleben. Der Drang nach ungehemmtem Ausdruck ist nur die eine Seite der deutschen Musikleidenschaft. Die Sehnsucht nach Ordnung ist ihre andere. Jeder der großen deutschen Tonkünstler rang mit dem Problem, wie beides zu versöhnen ist, auf seine Weise.
In die Sphäre der Heiligkeit erhob Martin Luther den Gesang. Selbstverständlich hatte es zuvor schon sakrale Musik gegeben, vor allem in Italien, wo der gregorianische Choral rund tausend Jahre zuvor entstanden war. Erst der Reformator jedoch - selbst ein passionierter Sänger, Lauten- und Flötenspieler, der einige seiner Kirchenlieder selbst vertont hatte - erfand den Gemeindegesang und machte ihn zum festen Bestandteil des Gottesdienstes. Man könnte lästern, dass er dies vor allem deshalb tat, weil die entschlackte protestantische Messe dem Gläubigen sonst nicht mehr viel zu bieten hatte. Doch Luther ging es tatsächlich um die Musik. Für ihn war sie »eine Gabe und Geschenk Gottes«. Er schrieb ihr sogar die Macht zu, den Teufel zu vertreiben, weil man bei ihr »allen Zorns, Unkeuschheit, Hoffart und anderer Laster« vergäße. In einer seiner Tischreden verkündete er: »Ich gebe nach der Theologie der Musik die nächste Stelle und die höchste Ehre.« Mit Luther hörte die Musik auf, angenehme Zerstreuung oder frommes Begleitgeräusch zu sein. Der Reformator lastete ihr die Bürde auf, die Menschheit gen Himmel führen zu sollen.
Dieses theologisch aufgeladene Konzept von Musik vertiefte der Pietismus. Der Rostocker Prediger und Erbauungsschriftsteller Heinrich Müller veröffentlichte im Jahre 1659 ein Büchlein mit dem Titel Geistliche Seelenmusik. Außer Kirchenliedern fanden sich dort ausführliche Betrachtungen über den Zusammenhang von Musik und Gottesdienst: »Zwar alles, was wir in dem Namen Gottes mit Worten oder Werken tun, gereicht Gott zu Ehren, doch wird Gott sonderlich durchs Singen geehret. Denn wer singet, der bezeuget damit, dass sein Gottesdienst aus einem fröhlichen, willigen, lustigen Herzen gehe, wie man von einem Menschen, dem Arbeiten eine Lust ist, spricht: Er tut’s mit Singen […] Wer singend betet, der betet zweimal, denn er betet mit Lust.«
Nicht jeder
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