Die deutsche Seele
die dialektische Versöhnung von Einzelnem und Ganzem tatsächlich gelungen war: »Die Beethovensche Musik stellt in der Totalität ihrer Form den gesellschaftlichen Prozess vor, und zwar derart, dass jedes einzelne Moment, mit anderen Worten: jeder individuelle Produktionsvorgang in der Gesellschaft verständlich wird nur aus seiner Funktion in der Reproduktion der Gesellschaft als ganzer […] Die Beethovensche Musik ist gewissermaßen die Probe aufs Exempel, dass das Ganze die Wahrheit ist.« Und plötzlich scheint der Unterschied zwischen Beethoven und Wagner doch kein kategorialer, sondern bloß ein relativer zu sein. Auch in der bei jedem Komponisten fundamentalen Frage, wie er den expressiven Rausch ordnend bändigt, kam Adorno nicht umhin, eine gewisse Gewaltsamkeit festzustellen: »Die Konstellation des Chthonischen und des Biedermeier« sei »eines der innersten Probleme bei Beethoven«. Wenn Adorno in einem anderen Fragment vom »metronomfreundlichen« Beethoven spricht, in dessen Musik »komplementär auf jede Zählzeit etwas eintritt«, klingt es endgültig so, als ob er es selbst bei den Werken dieses Komponisten in der Ferne marschieren hörte.
Letztlich übertrug Adorno die Verantwortung, dass Musik, die der klassischen Tonalität verpflichtet war, nicht zum Opium fürs Volk wurde, dem Zuhörer. Dieser sollte bei aller Hingabebereitschaft die analytische, reflektierende Distanz bewahren. »Genuin ästhetische Erfahrung muss Philosophie werden oder sie ist überhaupt nicht«, heißt es in der Ästhetischen Theorie.
Dass er die Musik durch strenge Rezeptionsauflagen - die der Laie ohnehin ignorierte - nicht retten würde, sah Adorno selbst. Musik konnte die Gefahr, missbraucht zu werden, nur dann wirklich bannen, wenn sie den Zuhörer von sich aus hinderte, gedankenlos in ihr zu versinken. Musik musste »neue Musik« werden. Sie allein, die von der Kulturindustrie als unverständlich abgelehnt, von den Nazis als »entartet« diffamiert, verfolgt und verboten wurde, vermochte sich an beiden Fronten ihre Unschuld zu bewahren.
Eine solche Musik, die den etablierten Betrieb von Grund auf erschütterte, war zu Beginn des 20. Jahrhunderts vor allem in Wien entstanden. Adorno selbst war 1925 in die Donaumetropole gegangen, um bei Alban Berg, den er später als »Meister des kleinsten Übergangs« feierte, Kompositionslehre zu studieren. Der musikrevolutionäre Vordenker der »Neuen Wiener Schule« hieß jedoch Arnold Schönberg. Dessen Credo, dass Musik nicht »schmücken«, sondern »wahr sein« sollte, sprach Adorno aus dem Herzen.
In jungen Jahren durchaus noch von Wagner fasziniert und inspiriert, drängte Schönberg danach, die Ketten der Tonalität ein für alle Mal zu sprengen. Die Mission seiner ersten Schaffensphase lautete: Emanzipation der Dissonanz. Der verstockte Zuhörer sollte begreifen, dass er sich Falsches angewöhnt hatte, indem er stets verlangte, jede Dissonanz in Konsonanz aufgelöst zu bekommen. Wer dissonante Klänge lediglich als Spannungsmittel zuließ, um sich am Schluss doch wieder in den vertrauten klassisch-harmonischen Wohlklängen wiegen zu können, verkannte, dass Erstere sich von Letzteren allenfalls graduell unterschieden.
In den Konzerthäusern seiner Zeit stieß Schönbergs Plädoyer, der Dissonanz ein eigenes Daseinsrecht einzuräumen, weniger auf taube als vielmehr auf erboste Ohren. Die Uraufführung seines //. Streichquartetts in fis-moll im Dezember 1908 wurde zum Skandal: Das Publikum im Wiener Bösendorfer-Saal lachte, zischte und pfiff. Dabei bewegte sich jenes Werk noch am Rande der Tonalität - zur gänzlich frei atonalen Kompositionsweise sollte Schönberg erst ein Jahr später in seinem musikalischen Monodram Erwartung finden. Die Verbitterung des Komponisten wurde gemildert, als ein kleiner Musikverein das Konzert vor einem handverlesenen Publikum wiederholte. Auf die Eintrittskarten hatte Schönberg diesmal drucken lassen, dass ihr Besitz lediglich zu ruhigem Zuhören, nicht aber zu Meinungsäußerungen, auch nicht zu Applaus, berechtige.
In einem späteren Aufsatz über Schönberg kritisierte Adorno diese Vorgehensweise seines Idols mitnichten als autoritären Gestus, wie er ihn dem selbstherrlichen Komponistendirigenten Wagner stets vorgeworfen hatte. »Musik, die sich treiben lässt von der reinen und unverstellten Expression, wird gereizt empfindlich gegen alles, was diese Reinheit antasten könnte, gegen jegliche Anbiederung an den Hörer wie
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