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Die deutsche Seele

Die deutsche Seele

Titel: Die deutsche Seele Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thea Dorn
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Verwaltungsreform unterzogen. Die Geburt des deutschen Bürgertums erfolgte weniger aus dem Geiste der Freiheit als aus dem der Ordnung. Daran krankt es bis heute.
    Kurz vor seinem Tod erzählte Joachim Fest, der Historiker, der sich als einer der letzten Vertreter des deutschen Bürgertums verstand, wie er als Lektor mit Albert Speer an dessen Erinnerungen arbeitete, die dieser in seiner Spandauer Haftzeit verfasste. Fest war aufgefallen, dass Hitlers Großbaumeister und späterer Rüstungsminister die Judenpogrome, die in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 stattgefunden hatten, im Manuskript mit keinem Wort erwähnte, und drängte Speer, diese Lücke zu schließen. Im fertigen Buch liest sich die Passage, in der sich der Sohn aus großbürgerlichem Hause an die »Reichskristallnacht« erinnert, dann so: »Am 10. November kam ich auf der Fahrt in das Büro an den noch rauchenden Trümmern der Berliner Synagoge vorbei […] Heute ist diese optische Erinnerung eine der deprimierendsten Erfahrungen meines Lebens, weil mich damals eigentlich vor allem das Element der Unordnung störte, das ich in der Fasanenstraße erblickte: verkohlte Balken, herabgestürzte Fassadenteile, ausgebrannte Mauern - Vorwegnahmen eines Bildes, das im Kriege fast ganz Europa beherrschen sollte. Am meisten aber störte mich das politische Wiedererwachen der >Straße<. Die zerbrochenen Scheiben der Schaufenster verletzten vor allem meinen bürgerlichen Ordnungssinn.«
    Kein Wunder, dass in der Bundesrepublik ein Oskar Lafontaine seinem damaligen Parteigenossen, dem Kanzler Helmut Schmidt, der sich zum bürgerlichen Tugendkatalog bekannte, höhnisch entgegenhalten konnte, dass man mit »Sekundärtugenden« auch ein KZ betreiben könne. Dagegen lässt sich allerdings einwenden, dass ein KZ auch ohne Sekundärtugenden zu betreiben ist - wie etwa die Kroaten in Jasenovac oder die Sowjets in ihren Gulags bewiesen haben. Dennoch: Es war der fatalste Fehler des deutschen Bürgertums, die Ordnung zur zentralen, auch moralischen Tugend zu überhöhen.
    Wo aber begann dieser Irrweg, der im Nationalsozialismus seinen schmählichen Bankrott erleben sollte?
    »Reichtum ist da ein selt’ner Gast, / Wo man täglich schlemmt und prasst, / Denn bei dem Saufaus trifft man eben / Ein wüst’ und ungeregelt’ Leben, / Draus bitt’re Armut auferwachs’, / Das sagt von Nürnberg euch Hans Sachs.« Diese Knittelverse reimte Deutschlands berühmtester Schuhmacher in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts. Die mittelalterlichen Handwerker, in Zünften organisiert, bezogen ihren Stolz daraus, ihre Arbeit in solider Perfektion zu verfolgen und - im Falle der Meistersinger - der Dichtung und dem Gesang mit einem nicht weniger strengen Regelwerk zu Leibe zu rücken als dem Leder, das sie nagelten, oder dem Kupfer, das sie schmiedeten. Sie waren die ersten Deutschen, bei denen sich ein bürgerliches Ethos herausbildete. Die Abgrenzung geschah in zwei Richtungen: nach oben von den adligen und klerikalen »Muckenbrütern« und »Schmeckbräteln«, die in ihren Schlössern und Klöstern keiner schweißtreibenden Tätigkeit nachgehen mussten; nach unten von den »Hausschienzern«, die lieber arm und verwahrlost in den Tag hineinlebten, als einem geregelten Handwerk nachzugehen. Das Klischee des Deutschen im Spätmittelalter entsprach mitnichten dem Bild des fleißigen Pedanten, nach dessen Tagesablauf man die Nürnberger Taschenuhr stellen konnte. Seit den Zeiten des römischen Imperiums galt der Germane eher als unmäßiger Säufer und Raufbold. Im Dreißigjährigen Krieg mit seinem chaotisch rohen Verlauf nahm diese Verwilderung weiter zu.
    Die erste sozialpädagogisch-religiöse Bewegung, die den Deutschen ihre ungezügelte Sittenlosigkeit systematisch austreiben wollte, waren die Pietisten. Wie schon dem Lutheraner Hans Sachs erschienen auch ihnen Armut und Verwahrlosung nicht als Schicksal, sondern als Zeichen von Sündhaftigkeit. Aus diesem Grund ließ der Theologe und Pfarrer August Hermann Francke an der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert in Glaucha eine pietistische Schulstadt samt Waisenhaus errichten, in der zumindest der Nachwuchs auf den Pfad der Tugend und damit des Seelenheils gelenkt werden sollte.
    Franckes Gott war der alttestamentarische »Gott der Ordnung«, und die einzige Aussicht auf Gnade bestand darin, sich Gottes Ordnung gnadenlos zu unterwerfen. Wie sich nun wiederum Gottes Ordnung ins Irdisch-Weltliche übersetzte - das wusste Francke.

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