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Die deutsche Seele

Die deutsche Seele

Titel: Die deutsche Seele Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thea Dorn
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majestätisch auseinander floss / Emmy, der weibliche Koloss«, und Oskar Maria Graf, der Einheimische, spürt noch in der Erinnerung an seinen ersten Wies’n-Besuch »das Gesicht aus dem Leim gehen«, wie er sagt.
    Um unsere eventuellen Restbedenken auszuräumen, lässt Eugen Roth uns 1960 wissen: »Zu Münchens schönsten Paradiesen, / zählt ohne Zweifel seine Wiesen.« Nicht unbeeindruckt von dieser Art Reim nehmen wir dann auch noch den Schlussvers des ellenlangen Werks gelassen zur Kenntnis: »Hier bin ich Mensch, hier darf ich’s sein«, heißt es da. Ganz wie bei Goethe, könnte man denken, muss es aber nicht.
    Alledem wäre, von heute aus betrachtet, auch kaum etwas hinzuzufügen, wäre der Karneval nicht zur festen Institution für die Unaussprechbarkeiten der Nachkriegszeit geworden. Die Bundesrepublik ist nicht ohne den Fußball, aber auch nicht ohne den Karneval vorstellbar. Es sind die Spiele, die zum Brot der frühen Jahre gehören.
    Alles Öffentliche politisch zu betrachten, ist in unserer Gesellschaft eine alte Gewohnheit. Der Vorgang vereinfacht das jeweilige Problem, er erweckt den Anschein, als gebe es für alles eine Lösung und für jede Lösung immer auch eine ausreichende Erklärung.
    Im Grunde aber geht es um etwas ganz anderes. Nämlich darum, wie wir die Welt aushalten können, die wir uns mit Schwung möbliert haben.
    Mehr aus Verlegenheit als aus Verzweiflung suchen wir ständig nach Möglichkeiten, den Verpflichtungen oder zumindest der Verantwortung zu entgehen, nach Ausnahmeregelungen, Krankschreibungen, Auszeiten, Ausreden aller Art. Es ist, als drehten wir am Rad, das sich wiederum mit uns dreht. Ob das nun eher ein Problem ist als eine Narrenfrage? Daran haben sich von Sebastian Brant, dem Verfasser des Narrenschiffs, bis Ernst Neger zahllose Geister gemessen.
    Ernst Neger, Dachdeckermeister, Sänger und Urgestein der Mainzer Fastnacht, wurde 1952 zum Fastnachtsstar mit dem Vortrag des Heile, heile Gänsje. Darin heißt es: »Wenn ich emol de Herrgott war, dann wüsste ich nur eens: / ich nahm in meine Arme fest mein arm’ zerstörtes Meenz. / Ich drückte es ganz fest an mich und sagt’, hab nur Geduld! / Ich bau dich widder auf geschwind! Ei du warst ja garnet schuld. / Ich mach dich widder wunnerschön, / Du kannst, du derfst net unnergehn …«
    Die Antwort der Eliten auf Volkes Stimmzeit ist der politische Aschermittwoch. Er gehört den Politikern, aber auch den Kabarettisten. So verständigt sich die Gesellschaft als Karnevalsgesellschaft über ihre Belange. Das närrische Treiben wird zum Siegel der Normalität. Unter den Umständen der Nachkriegszeit war dies von größter Bedeutung.
    Unterdessen wächst die Zahl derer, die ihre Narrenkappen das ganze Jahr über tragen. Auf die Stunde der Wahrheit folgt in der zunehmend mediengesteuerten Öffentlichkeit die zeitlose Kunst der Heuchelei. Jetzt hält die Kamera drauf, und der Politiker muss sich als Souverän seines Mienenspiels bewähren. Es kommt dabei nicht auf die Glaubwürdigkeit an, sondern auf die Überzeugungskraft seiner Maske.
    Dass der Karneval die Selbstdarstellung fördert, hat auch die Erlebnisgesellschaft erkannt. Die sogenannte Wohlfühlgesellschaft hat sich des Karnevals in der Form der Love-Parade bemächtigt. Sie wird von einem legendären DJ der Berliner Techno-Szene, Dr. Motte, 1989 ins Leben gerufen. Das Event beginnt mit einem Umzug von hundertfünfzig Leuten und wächst sich innerhalb von wenigen Jahren zum Totalspektakel mit Millionen Beteiligten aus. Bis 2001 gilt die Love-Parade als politischer Demo-Zug. Damit muss sie nicht für die Aufräumarbeiten und die Müllkosten aufkommen. Im Gegenzug hat sie sich bloß ein Motto zu geben.
    Das Ereignis selbst folgt in der Aufmachung den Karnevalsumzügen, mit dem Unterschied, dass hier nicht mehr das Wort zählt. Es geht nur noch ums Abfeiern. Und trotzdem setzt es den Maßstab für ein Phänomen der beiden letzten Jahrzehnte seit der deutschen Vereinigung. Mit der Love-Parade beginnen die großen öffentlichen Veranstaltungen, die Partys am Brandenburger Tor, das Public Viewing bei den großen Fußballevents. Der öffentliche Raum Deutschlands nimmt eine Normalität an, zu der selbstverständlich auch die Nationalflagge gehört.
    Und die Narren? Die mit der Holzmaske, mit den Kostümen wie eh und je? Auch sie gibt es noch! Die Traditionen aus dem Mittelalter, sie sind heute am besten in der schwäbisch-alemannischen Fastnacht aufgehoben. Sie hat im 20.

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