Die deutsche Seele
der Mensch noch genügend Chaos in sich hat, das zu ordnen sich lohnt.
->Abgrund, Arbeitswut, German Angst, Jugendherberge, Kindergarten, Musik, Schrebergarten, Strandkorb, Vater Rhein, Vereinsmeier, Waldeinsamkeit
Pfarrhaus
Schau, die Fledermausgauben. Sieh, die Ziegel, die eigens für den Pfarrhausbau geschlagen wurden. Man lagerte sie über Winter im Wasser, damit das Pfarrhaus lange hielt…
»Ostern im alten Pfarrhaus« - das verspricht uns ein Vier-Sterne-Hotel, viel später und in einer anderen Zeit. »Genießen Sie ein außergewöhnliches Ambiente an den Ostertagen«, heißt es im Werbetext des Hotels. Es handele sich um einen Barockbau von 1762. Wer’s für länger haben will, kann auch ein Pfarrhaus mieten oder kaufen. »Pfarrhaus-Immobilien« nennt sich das einschlägige Maklerbüro.
Fazit: Das Pfarrhaus steht zum Verkauf. Das aber sollte uns zu denken geben. Ist der Vorgang jenseits der buchhalterischen Argumentation der Kirche vielleicht auch Teil des allgemeinen Ausverkaufs unserer Kultur?
Der einflussreiche Psychiater der zwanziger Jahre Ernst Kretschmer behauptete 1929 in seinem Buch Geniale Menschen, seit dem 18. Jahrhundert käme die Hälfte der deutschen Intellektuellen aus dem evangelischen Pfarrhaus. Unter ihnen Johann Christoph Gottsched, Gotthold Ephraim Lessing, Christoph Martin Wieland, Jakob Michael Reinhold Lenz, Jean Paul, die Brüder Schlegel und Friedrich Nietzsche.
Gottfried Benn wiederum, ebenfalls Pfarrerssohn, geht 1934 in seinem Essay Das deutsche Pfarrhaus triumphierend ins Detail. 30 Prozent der Ärzte, 40 Prozent der Juristen, 44 Prozent der Naturforscher und 59 Prozent der Philologen würden aus dem Pfarrhaus kommen. Dort sei, so Benn, jener Typ des Denkers, der zugleich Dichter, oder jener des Dichters, der zugleich Philosoph sei, entstanden.
Über die kulturelle Rolle des evangelischen Pfarrhauses wurde gelegentlich lobend geschrieben. Zu Recht. Wir aber wollen an dieser Stelle, nach der Konsultation der legendären Aufsätze der Germanisten Robert Minder und Albrecht Schöne zur Literatur aus dem Pfarrhaus eine These wagen: Was dem Franzosen die Enzyklopädie ist, sollte für den Deutschen das evangelische Pfarrhaus sein.
In beiden Fällen geht es um den Menschen und um das Menschenbild. Es geht um Wissen, Bildung und damit um Aufklärung. Die einen bemühen dazu erklärtermaßen die Wissenschaften, die anderen bleiben im Grunde bei der Bibel. Die jeweiligen Urheber nennen sich bereits Essayisten oder immer noch Theologen. Den einen geht es ums Unerforschte, den anderen ums Unerforschliche. Das Überraschende aber ist, von heute aus gesehen, die gelegentlich beobachtete Geringfügigkeit des oft betonten Unterschieds.
Während die Enzyklopädie 1750 den publizistischen Donnerschlag ausführt, der die gebildeten Stände Europas in Erstaunen versetzt, bleibt das Pfarrhaus frei von Sensationen. In der Folge verändert die Enzyklopädie das öffentliche Leben, das Pfarrhaus hingegen das private, und so, wenn auch unspektakulär, das öffentliche mit.
Das Leben im Pfarrhaus soll nach Martin Luthers Vorstellung exemplarisch sein und zum Vorbild dienen. Auch dort zählt Wissen, aber es bleibt in gewohnter Weise behaust. Man hält den Papst zwar für überflüssig, aber die Welt verbleibt in Gottes Hand. Was zählt, ist die Heilige Schrift, und bald auch die Schriften allgemein.
Während die Enzyklopädie den Umsturz vorzubereiten hilft - na klar, die Französische Revolution -, sorgt das Pfarrhaus für Inseln des Geistes und der Bildung in der anscheinend unverrückbaren deutschen Gesellschaft. Die Enzyklopädie wird zum Machtinstrument der Bürger, das Pfarrhaus hingegen zum Schutzraum für den Geist. Eine Gesellschaft, in der der Umsturz keine Chance hat, behilft sich mit Freiräumen, heute würde man sagen Nischen. Das Pfarrhaus ist Luthers bester Stützpunkt. Es ersetzt Bibliotheken und Universitäten, Akademien und Eliten. Das Instrumentarium des Pfarrhauses ist nicht üppig, das Notwendigste ist aber stets vorhanden. Es taugt zum Notprogramm, die Kehrseite allerdings ist, dass es bisweilen auch alles andere zum Notprogramm macht.
Das lutherische Pfarrhaus ist von Anfang an politisiert. Seine Existenz fußt schließlich auf der Abschaffung des Zölibats, und das ist nun wirklich keine Kleinigkeit. Es blieb lange eine namenlose Herberge für den Geist. Als stiller Teilhaber hatte es die Reklame nicht nötig, und der Herbergscharakter machte vieles möglich.
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