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Die deutsche Seele

Die deutsche Seele

Titel: Die deutsche Seele Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thea Dorn
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Die Zöglinge wurden in einen ehernen Tagesablauf aus Lernen, praktischen Tätigkeiten und Gebeten eingespannt, alle Bereiche des Lebens vom korrekten Umgang mit den Öfen bis hin zur erlaubten Lautstärke beim frommen Gesang waren reglementiert. Die Hausordnung sah ebenso vor, beim »Zeichen mit dem Glöcklein« pünktlich zu Tische zu eilen, »damit nicht Unordnung draus komme«, wie sie es verbot, »an die Wände der Gebäude, weder in noch außer dem Hofe, [zu] pissen«. Der Kontakt zu den Eltern wurde so gering wie möglich gehalten, da diese mit ihrer »unordentlichen Liebe« die Kinder nur aus dem Takt bringen würden.
    Die »Franckeschen Stiftungen« wollten zu Nächstenliebe, Rücksicht und Gemeinsinn erziehen - kritischer Geist wurde dort weder gepredigt noch gelehrt. Ein Weltbild, in dem der »Eigen Wille« gleichbedeutend mit »Sünde« ist und deshalb systematisch ausgetrieben bzw. in die Haltung umgewandelt werden soll, sich einzig als ein Werkzeug zu verstehen, durch das Gottes Wille tätig wird, ist anfällig für totalitäre Vereinnahmungen. Dennoch wäre es zu einfach, in dem Disziplinierungsschub, den Deutschland dem Pietismus verdankt, einzig die Weichenstellung zum Untertanentum zu sehen.
    Auch Immanuel Kant, der seine Landsleute aufforderte, sich ihres eigenen Verstandes zu bedienen, anstatt alles nachzubeten, was man ihnen vorsagte, entstammte dem pietistisch-preußischen Milieu. Obwohl der Königsberger Philosoph wie die meisten deutschen Aufklärer die Französische Revolution begeistert begrüßte, wollte er die intellektuelle Mündigkeit des Einzelnen auf den privaten Bereich beschränkt sehen. Im öffentlichen Raum hatte der Staatsbürger zu gehorchen. Bei aller Republikbegeisterung blieb Kant ein rigider Ordnungsphilosoph. Dennoch gelang es ihm zu zeigen, dass Ordnen auf allen Gebieten kein starres, blindes Unterordnen ist, sondern ein schöpferischer, zu reflektierender Vorgang. »Die Ordnung und Regelmäßigkeit also an den Erscheinungen, die wir Natur nennen, bringen wir selbst hinein und würden sie auch nicht darin finden können, hätten wir sie nicht oder die Natur unseres Gemüts ursprünglich hineingelegt«, schreibt er in der Kritik der reinen Vernunft. Dieser erkenntnistheoretischen Hochschätzung der menschlichen Fähigkeit zur Ordnung entsprach Kants private Überzeugung, dass Regel- und Planmäßigkeit im Alltag die Quelle geistiger Gesundheit sei. Seine immense Produktivität entwickelte der Philosoph vor allem ab seinem 40. Lebensjahr, nachdem er sich vom zuvor gepflegten lässigeren Lebensstil des »eleganten Magisters« verabschiedet hatte. Der »reife« Kant stand um fünf Uhr in der Frühe auf, nahm eine bis zwei Tassen Tee zu sich, rauchte eine Tabakspfeife, bis sieben Uhr bereitete er seine Vorlesungen vor, die bis elf Uhr dauerten, danach schrieb er bis zum Mittagessen, am Nachmittag machte er einen Spaziergang und traf sich mit seinem engsten Freund Joseph Green - über den der Schriftsteller und spätere Königsberger Bürgermeister Theodor Gottlieb von Hippel ein Lustspiel mit dem Titel Der Mann nach der Uhr, oder der ordentliche Mann verfasste -, abends erledigte er noch kleinere Arbeiten und las, um zweiundzwanzig Uhr lag er im Bett. Heinrich Heine spottete später, über den Professor aus Königsberg ließe sich keine Biographie schreiben, da dieser weder ein Leben noch eine Geschichte gehabt habe. Ebenso gut ließe sich sagen, dass Kant nur deshalb zu dem unermüdlichen Denker und Schreiber werden konnte, weil er seinen Alltag einem so strengen Regime unterwarf. Anstatt sich in seine regelmäßig wiederkehrenden »Herzbeklemmungen« und »unzureichende Exoneration« (vulgo: Verstopfung) zu vertiefen oder sich seinen »empfindlichen Nerven« zu überlassen, bekämpfte der Philosoph seine hypochondrischen Neigungen, indem er sich einem ganzen Bündel von Alltagsmaximen unterwarf. Anders als auf dem Gebiet des moralisch Gebotenen, beim Kategorischen Imperativ, der ausnahmslos forderte, nur nach derjenigen Maxime zu handeln, »durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde«, waren hier seltene Abweichungen - excipe! - erlaubt. Solange die Unterordnung unters Gesetz keine blinde wird, kann aus ihr durchaus Freiheit entspringen.
    Gern darf man vermuten, dass in jedem Ordnungsfanatiker ein Geist wohnt, der sich vor dem Chaos fürchtet. Vor dem, das er in sich selbst birgt. Und vor dem, das die Welt für ihn bereithält. Ein deutsches

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