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Die deutsche Seele

Die deutsche Seele

Titel: Die deutsche Seele Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thea Dorn
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Jahrhundert, im Unterschied zur Politisierung des rheinischen Karnevals und jenseits des Allerweltsfaschingstreibens, einen eigenen Weg eingeschlagen, den Weg zurück zu den fast vergessenen und verschütteten Anfängen, zu den Masken und Maskenrollen. Die Fasnet des Südwestens hat keine Metropolen und keine Hochburgen. Sie ist Sache der Kleinstädter. Diese tragen im Karneval Masken, die in den Familien über Generationen aufbewahrt wurden. Diese Masken werden zum Identitätsobjekt. Das aber ist das größtmögliche Paradoxon und der Ursinn von Tradition: Die Maske zum Ich zu erklären, wenn es anders nicht geht.
     
    >Bierdurst, Fussball, Spiessbürger, Vater Rhein, Vereinsmeier

Ordnungsliebe
     
    Im Sommer des Jahres 1789 reiste der Schriftsteller und Pädagoge Joachim Heinrich Campe zusammen mit seinem ehemaligen Schüler Wilhelm von Humboldt nach Paris, um die revolutionären Vorgänge aus der Nähe zu betrachten. Hingerissen berichtete er in die Heimat: »Dies ist das Bild einer frei gewordenen Nation, die ihren Despoten […] abgeschüttelt hat. Es ist unmöglich, glaube ich, in der ganzen Natur etwas Schöneres und Rührenderes zu sehen. Noch jetzt, da dies Herz und Sinn erhebende Schauspiel mir nicht mehr neu ist, stehe ich, in Erstaunen und Entzücken versunken, oft stundenlang an öffentlichen Plätzen, wohin die schwellende Flut des Menschenstroms sich unaufhörlich ergießt, und beobachte bis zu süßen Freudentränen gerührt […] die allgewaltigen, wunderähnlichen Wirkungen, welche das neue Freiheitsgefühl auf die Erhebung und Veredelung der menschlichen Gemüter und Sitten äußert.«
    Kurz vor seinem Revolutionsausflug hatte der Dichter und Denker, der im Fürstentum Braunschweig-Wolfenbüttel zu Hause war, die (weibliche) Erziehungsfibel Väterlicher Rat für meine Tochter veröffentlicht. Dem Tugendterroristen Robespierre hätte vermutlich gefallen, was Campe darin schrieb; Marianne hingegen, der stürmischen Freiheits-Ikone der Franzosen, wäre vor Schreck - oder Lachen - das Dekollete endgültig verrutscht. »Ordnungsliebe!«, heißt es dort, »wo nehme ich Worte her, dir diese - Tugend? nein, das ist zu wenig gesagt, diese Mutter und Pflegerin der meisten andern Tugenden, diese Beglückerin des menschlichen Lebens, diese mächtige Beförderin jeder nützlichen Tätigkeiten, diese notwendige Grundlage alles dessen, was schön und gut, was groß und edel ist, in ihrer ganzen Liebenswürdigkeit, Notwendigkeit und Nützlichkeit zu schildern?« Mit heiligem Grauen malt der Vater die Schrecken eines schlampig geführten Haushalts aus, um zu erläutern: »Das Schlimmste dabei ist, dass die Unordnung im Äußerlichen nach und nach, zwar unmerklich, aber nichtsdestoweniger gewiss, auch in das Innere der Menschen, in ihre Empfindungen, in ihre Denkungsart, in ihre moralischen Handlungen übergeht. Wessen Auge durch den Anblick einer chaotischen Verwirrung und schändlichen Unsauberkeit in seinem Zimmer nicht mehr beleidiget wird, dessen Herz und Geist werden sich auch nicht lange mehr gegen die sittlichen Unordnungen in seinen eigenen Handlungen und in den Handlungen der Glieder seiner Familie empören.«
    Campes Ermahnung, die Ordnung über alles zu schätzen, galt nicht nur der weiblichen Jugend. Wenige Jahre vor seinem Väterlichen Rat hatte er bereits der männlichen Jugend in nüchterneren Worten eingeschärft: »Tugend ist Ordnung, d. i. Übereinstimmung unserer Handlungen unter sich und mit den Grundsätzen der Vernunft; Laster ist Unordnung, d. i. Misslaut und Zwietracht unserer Handlungen unter sich und mit dem, was die Vernunft von uns fordert.«
    Campe war nicht der Einzige, der im Deutschland des späten 18. Jahrhunderts vom Ordnungsfieber befallen war. Auch Georg Christoph Lichtenberg, der Mathematiker, Physiker und Aphorismenschreiber, bescheinigte der Ordnung - just in seinen Sudelbüchern -, dass sie zu allen Tugenden führe. Die deutsche Aufklärung insgesamt lässt sich als eine große Aufräumaktion verstehen: Das Denken sollte ebenso in Ordnung gebracht werden wie der Gefühlshaushalt, die individuelle Lebensgestaltung wie der Staat. Was sich nicht bei drei auf die Bäume gerettet hatte, wurde kategorisiert und systematisiert. Der Philosoph Immanuel Kant bewies in seinen Hauptwerken keine geringere Liebe zum Paragraphieren als der Freiherr vom und zum Stein oder Karl August von Hardenberg, jene Reformer, die das preußische Königreich einer minutiösen Struktur- und

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