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Die deutsche Seele

Die deutsche Seele

Titel: Die deutsche Seele Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thea Dorn
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und kann doch nicht ganz das bleiben, was er einmal war. Als Nächstes wendet sich die Aufklärung gegen ihn, sie sieht in ihm einen längst überholten Brauch. Bräuche verträgt sie schlecht. Sie verdächtigt diese, nicht der Vernunft zu dienen, sondern der Beschwörung. Was kann man schon von einer Denkrichtung erwarten, die sich damit brüstet, den Hanswurst von der Bühne gejagt zu haben?
    Zeitweise sieht es so aus, als würde das Phänomen im Getöse der allgemeinen Geschichtsverwerfung untergehen. Als seien nur noch die Narren übrig, die einen, die anderen, und die Masken, wie sich herausstellen wird, die schwäbischen, die alemannischen, die Holzmasken. Schrecksekunden schaffende Masken. Ausnahmegesichte.
    Auf sie greift die kollektive Erinnerung aus jeweils aktuellem Anlass zurück. Sie zeigt angesichts der gerade anstehenden Sinnkrise die Larven vor, diese aber vermitteln nichts anderes als das Prekäre des menschlichen Seins. Gerade das späte Mittelalter tabuisiert Tod und Untergang ausdrücklich nicht. Den Blick in den Abgrund verstellt sich später das Bürgertum, durch die selbst auferlegten Verbote.
    Mit dem 19. Jahrhundert und der Einrichtung der Massengesellschaft bekommt alles, auch die Volkskultur, eine moderne Passform. Und wieder ist der Anlass politischer Natur.
    Nach dem Wiener Kongress (1815) ist Köln preußisch geworden und sieht sich in seinem Selbstverständnis bedroht. In dieser Situation greift man nach allen Mitteln, die einem zur Verfügung stehen. So wird der Karneval zur Bühne des Protests. Er wird vordergründig politisiert. Büttenredner berufen sich auf die Narrenfreiheit, der neu eingeführte Umzug ist auch eine Machtdemonstration der Rheinländer.
    Der Karneval wird so zum regionalen Identitätsmerkmal. Er bildet nicht mehr das Verhalten der Unterschicht ab, die sich vorher enthemmt und dem Grobianismus frönend auszutoben pflegte, er wird vielmehr Teil des Machtgefüges in der Stadt. Die Karnevalsvereine schlüpfen in die Rolle von Parteien und steuern aus dem Hintergrund die Tagespolitik mit. Karneval ist bald nicht mehr das Ventil für die Unzufriedenheit des Bürgers, sondern eine unverblümte Botschaft an Preußen über die tatsächlichen Machtverhältnisse. Preußen hatte zwar die Macht, das Sagen hatten aber die Kölner Patrizier. Die Macht des Karnevals über die städtische Gesellschaft ist bis heute deutlich zu erkennen.
    Dass man auch viel weniger unter dem Vorwand des närrischen Treibens anstreben kann, zeigt das zweite Beispiel einer erfolgreichen regionalen Selbstdarstellung der ausschweifenden Art, das Münchner Oktoberfest. Zwei Wochen lang dauert es jeden Herbst. Es gilt als eines der größten Volksfeste weltweit. Alles begann 1810 mit einem Volksfest anlässlich der Hochzeit des späteren Königs Ludwig I.
    Genau genommen ist das Oktoberfest ein Jahrmarkt der Sensationen verschiedenster Art. Achterbahn, Riesenrad und Todeswand. Mehrmals täglich saust das Fallbeil auf den Hals des unschuldigen Besuchers nieder, und Arabella, die Dame ohne Unterleib, schaut interessiert zu.
    Felix Mendelssohn Bartholdy schreibt im Oktober 1831 an seine Familie: »Mein Concert hat müssen verschoben werden des Octoberfestes wegen, das nächsten Sonntag anfängt und die ganze nächste Woche dauert. Es ist da jeden Abend Theater und Ball, an kein Orchester und keinen Saal zu denken. Am Montag den i/ten, abends um halb 7 denkt aber an mich; da geht es los mit 30 Geigen und doppelten Blasinstrumenten.«
    1835 beschreibt ein anonymer Autor das Treiben auf der Theresienwiese so: »Man drängt, man stößt, man läuft, / man frisst, man spielt, man säuft, / man rauft, man schimpft, man haut, / man staunt, man gafft, man schaut, / man kommt, man ist da, man geht, / man schiebt, man hält, man dreht, / man reitet, man fährt und sprengt, / man eilt, man springt, man rennt, / man singt, man lacht, man scherzt, / man jubelt, hüpft und herzt, / jedoch die Nacht bricht ein, / man lässt’s für heut’ gut seyn.«
    1872, 37 Jahre später, schreibt ein anderer, ebenfalls anonym, dieses: »Der echte Münchner kann es nicht über sich gewinnen, auch nur einen Tag des Oktoberfestes ganz zu verlieren. Er muss wenigstens einige Stunden draußen gewesen sein. Dem Künstler aber und dem Sittenforscher bietet das Oktoberfest eine unerschöpfliche Ausbeute.«
    Über eine weitere zeitlose Dame aus der Jahrmarktsriege dichtet 1928 Joachim Ringelnatz: »Die Lavamasse von alpinen Brüsten / Die

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