Die deutsche Seele
Liederbuch aus dem Jahre 1876 bringt es fertig, im Inhaltsverzeichnis unter dem Punkt III.2. »Liebeslieder« nochmals zu unterscheiden in 2.a. »Liebesfreud’« und 2.b. »Liebesleid« - als ob sich das eine vom anderen trennen ließe. Es ist kein Zufall, dass die leidenschaftlichsten Ermahnungen, Ordnung zu halten, wie etwa im Väterlichen Rat Campes, von Männern an Frauen gerichtet wurden. Von Männern, die »das Weib« für ein ebenso faszinierendes wie irrationales und schwer zu durchschauendes Wesen hielten.
Wäre der deutsche Hang zum Domestizieren also damit zu erklären, dass der Deutsche sich einerseits besonders hingezogen fühlt zu allem, was er nicht kontrollieren kann - und gleichzeitig nichts mehr fürchtet?
Friedrich Nietzsche hätte dem zugestimmt. Der »unordentliche« Denker, der das rauschhaft »Dionysische« mehr liebte als das klare »Apollinische« - und nicht zuletzt daran zugrunde ging -, warf den Blick hinter die sauber verputzten Fassaden seiner Landsleute, um zu erkennen: »Die deutsche Seele hat Gänge und Zwischengänge in sich, es gibt in ihr Höhlen, Verstecke, Burgverließe; ihre Unordnung hat viel vom Reize des Geheimnisvollen; der Deutsche versteht sich auf die Schleichwege zum Chaos.«
Denselben Gedanken spann der Literat Friedrich Sieburg fort, der in der Weimarer Zeit versuchte, den Deutschen Frankreich zu erklären und umgekehrt: »Wie sehr die deutsche Fähigkeit, das Chaos zu bejahen und ins eigene Wesen einzubeziehen, unsere Nachbarn ängstigt. Man sagt, dass wir als Volk schwindlig geworden seien, weil wir uns zu tief und zu lange über den Abgrund der Natur gebeugt hätten. Es gibt also Völker, denen die Natur wie ein Abgrund erscheint. Uns jedenfalls nicht. Denn wir nehmen immer noch weitgehend an ihren Gesetzen teil, weil wir nicht genügend eigene haben. Wir sind noch ein Teil von ihr und daher jederzeit imstande, wieder in sie zurückzukehren.«
Der ganze Zwiespalt, der das deutsche Naturverhältnis ausmacht, drückt sich hier aus: Ist Natur nun ein Chaos, blind vorwärtsdrängend ohne Rücksicht auf Verluste? Oder ist sie das letzte kosmische Ordnungssystem, das geblieben ist, nachdem der Glaube an eine göttliche Ordnung verblasst ist? Der Nationalsozialismus bezog seine unselige Faszination eben daraus, dass er vorgab, das Chaos zur stählernen und gleichzeitig natürlichen Ordnung zu zwingen und dabei auch noch die Dynamik der »Bewegung« zu erhalten. Wenige Monate bevor die ihm so verhasste Weimarer Republik endgültig zusammenbrach, pries Ernst Jünger den neuen Menschenschlag des »Arbeiters« als einen, »der sich mit Lust in die Luft zu sprengen vermag und der in diesem Akte noch eine Bestätigung der Ordnung erblickt«.
Nach dem Krieg gab es zumindest für Friedrich Sieburg, der sich durchs »Dritte Reich« hindurchlaviert hatte, ohne je wirklich überzeugter Parteigänger gewesen zu sein, keinen Zweifel mehr: Das ordentliche Chaos, die chaotische Ordnung, die der Nationalsozialismus installiert hatte, war zu keinem Zeitpunkt mehr gewesen als geronnene Brutalität. Gleichzeitig fürchtete Sieburg, dass die Deutschen in der Bundesrepublik dabei waren, die Quellen des Chaotisch-Dynamischen, aus denen sie seit je ihre Vitalität und Kreativität bezogen hatten, ängstlich zu versiegeln.
Der liberale Verfassungsstaat ist dagegen gefeit, zur überhitzten Vernichtungsmaschinerie zu werden - die Gefahr, einzig Leerlauf zu produzieren, weil er das menschliche Leben auf »eine saubere Organisation, ein durchdachtes Sozialgefüge und eine tüchtige Verwaltung« reduziert, ist real. Für den großbürgerlichen Bonvivant Sieburg lag die Herausforderung darin, Ordnung und Chaos jenseits des faschistischen Kurzschlusses ins richtige Verhältnis zu setzen.
Die Herausforderung besteht bis heute. Ordnung ist nicht alles - schon gar nicht taugt sie zur moralischen Tugend. Von diesem Irrtum sollten sich diejenigen verabschieden, die die Renaissance der Kopfnoten »Aufmerksamkeit, Ordnung, Fleiß, Betragen« an deutschen Schulen leidenschaftlich begrüßen, ebenso wie diejenigen, die zwar gegen die »Schleimnoten« auf die Straße gehen, dafür aber ihrem Kind einschärfen, den leeren Joghurtbecher niemals in die graue, braune, grüne oder blaue, sondern stets in die gelbe Tonne zu werfen und ihn am besten vorher noch auszuspülen. Als Maxime bürgerlicher Lebensklugheit behält Ordnung ihren guten Sinn - allerdings nur, solange sie nicht zum stupiden Joch wird, und
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