Die deutsche Seele
(Verzeihung, Zugspitze! Verzeihung, Watzmann!), aber Deutsche waren es, die den Bergfilm erfunden und zum Gipfel getragen haben.
Rückblende: Freiburg, kurz vor dem Ersten Weltkrieg.
Es ist noch nicht lange her, da haben die Bilder das Laufen gelernt. In den Varietes und »Kintöppen« amüsiert Das boxende Känguruh der Brüder Skladanowsky das deutsche Publikum, die Brüder Lumiere zeigen der staunenden Welt, wie ein Zug in einen provencalischen Bahnhof einfährt, im amerikanischen Nickelodeon darf der Zuschauer gar Zeuge eines Bahnüberfalls werden, in Italien wird der erste Monumentalfilm gedreht: Quo vadis?
Während die Bilder auf wackligen Beinen vorwärts stolpern, schickt sich der Alpinismus an, den Kinderschuhen endgültig zu entwachsen. Waren Höheneskapaden wie die Bezwingung des schroffen Mont Aiguille mit Hilfe von Leitern und anderem Werkzeug im Jahre 1492 oder die Erstbesteigung des Mont Blanc im Jahre 1786 absolut singulare Taten, beginnt in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts der systematische Gipfelsturm: 1857 wird in London der erste Alpenverein gegründet, Österreich, die Schweiz und Deutschland ziehen in den folgenden Jahren nach. 1865 steht der Brite Edward Whymper mit seinen Begleitern auf der magischen Spitze des Matterhorns (vier der Begleiter werden den Abstieg nicht überleben). 1896 nimmt die erste alpine Rettungsorganisation ihren Dienst auf. 1911 rühmt sich der Österreicher Karl Blodig, als erster Mensch alle Viertausender der Alpen bestiegen zu haben.
In dieser doppelten Aufbruchssituation hält es zwei junge Männer, die beide ebenso kamera- wie bergverrückt sind, nicht länger in den Mittelgebirgen des Schwarzwalds: Der Textilzeichner Sepp Allgeier und der Geologiestudent Arnold Fanck wollen höher hinaus. Und sie wollen denen im Tiefland zeigen, wie schön und erhaben es dort oben ist.
Der an Kant geschulte Kunsttheoretiker zuckt zusammen. Schön und erhaben? Wie soll das gehen? Haben wir nicht gelernt, dass das Schöne und das Erhabene krasse Gegensätze sind? Auf der einen Seite die Harmonie, das der menschlichen Wahrnehmung Wohlgefällige, auf der anderen Seite das sämtliche Sinne überfordernde, schlechthin Gewaltige, das überhaupt nur zu »genießen« ist, wenn der Mensch all seinen übersinnlichen Mut zusammennimmt und dem Anblick des Furchtgebietenden trotzt?
Solch kantianische Skrupel plagen die beiden jungen Väter des Bergfilms wenig, als sie ihre Kletter-, Ski- und Kameraausrüstung einpacken, um die ersten Dokumentarfilme im Hochgebirge zu drehen. Das Schöne und das Erhabene gehen für sie fließend ineinander über. Was kann es Schöneres geben als einen Neuschneehang, der in der Sonne glitzert? Und was Erhabeneres, als wenn plötzlich ein Wetter aufzieht und den eben noch friedlichen Hang in eine Lawinenhölle verwandelt? Die Bergdramen der 1920er und 30er Jahre, in denen der heroische Mensch in Fels und Eis ums Überleben ringt, werden die Frage, wie das Schöne zugleich das Erhabene sein kann und umgekehrt, zuspitzen - aber in seinen Kinderjahren bringt das Genre noch keine tragischen Alpinopern hervor, sondern Imposant-Lehrreiches (4628 Meter hoch auf Skiern. Die Besteigung des Monte Rosa, 1913) oder Rasant-Unterhaltsames (Das Wunder des Schneeschuhs, 1920 / 21).
Einzig gestört haben mag das Duo Allgeier/Fanck in seinen Anfängen, dass vor ihm bereits ein Brite seine Kamera aufs Matterhorn geschleppt hat. Aber diese Bilder sind weder schön noch erhaben genug. Es reicht nicht einfach abzufilmen, wie ein Mensch einen Berg besteigt oder auf Skiern hinabfährt - ganz gleich wie grandios alpine Leistung und Naturkulisse sein mögen. Die Spannung zwischen Mensch und Berg vermittelt sich nicht, wenn die Kamera als unbeteiligter Beobachter danebensteht. Sie muss Teil des Geschehens werden, Mensch und Berg noch näher aneinanderrücken, noch härter aufeinanderprallen lassen, mit beiden mitfiebern, nur so entsteht das magische Dreieck Zuschauer - Berg - Bezwinger. Dafür sind alle Mittel recht.
Der mittlerweile promovierte Arnold Fanck erfindet mit Sepp Allgeier, der sich künftig auf die Rolle des Kameramanns spezialisieren wird, permanent neue Filmtechniken: Da es noch keinen Zoom gibt, verwendet Regisseur Fanck schwarze, unterschiedlich ausgeschnittene Masken, die das Bild fokussieren. Immer neue Objektive gibt er in Auftrag, mischt seine eigenen Flüssigkeiten zur Negativentwicklung, später wird er zur Entwicklung der ersten
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