Die deutsche Seele
Spiegelreflex-Filmkamera beitragen. Noch später lässt er eine Kamera auf einen Ski montieren, damit der Zuschauer subjektiv erleben kann, wie es ist, einen verschneiten Hang hinunterzusausen. Die »entfesselte Kamera« wird für nie da gewesene Leinwandräusche sorgen.
In München arbeitet der Soziologe Max Weber an seiner Theorie der »Entzauberung der Welt«. Die Freiburger Bergfilmpioniere brechen derweil auf, um zu beweisen, dass noch nicht die ganze Welt entzaubert ist, und dass derjenige, der die neuesten technischen Errungenschaften recht zu gebrauchen weiß, im Gegenteil sogar dazu beitragen kann, das wenige unentzaubert Gebliebene noch mehr zu verzaubern. Der Naturbursche als Technikfreak. Der Filmtüftler als Bergfex.
Gern darf man bezweifeln, dass dem Laboratorium des Dr. Frankenstein minder Monströses entspringt, bloß weil es in die Bergwelt umzieht. Das berühmt gewordene Verdikt »präfaschistisch«, das der Filmkritiker Siegfried Kracauer über das gesamte Genre Bergfilm verhängt, greift jedoch, wie sich noch zeigen wird, zu kurz. Die Tragik des Bergfilms liegt vielmehr darin, dass er zur Vernichtung dessen, was er bewahren will, beiträgt. Die vermeintliche Versöhnung von Technik und Natur im Zeichen des Schönen bleibt trügerisch. Die auratischen Bilder von wilder, unberührter Bergwelt, die Fanck & Co. ins Tiefland hinabschicken, machen selbst dem flachländischsten Großstädter Lust auf Höhe. Die alpincineastischen Zauberkünstler verkünden: Der Berg ruft! Es wird nicht lange dauern, und die Zivilisation folgt dem Ruf mit immer neuen Seilbahnen, Skiliften und Pistenraupen. Aber noch ziehen die Massen nicht alpwärts, sondern bloß in den nächsten Filmpalast. Das heißt: Eine gewisse Großstädterin wird schon vorher unruhig.
Eine junge Frau, im August wird sie 22, tritt von einem Bein auf das andere. Sie wartet auf den Zug, ihr Knie schmerzt, Diagnose unklar, vermutlich Bänderzerrung, sie ist auf dem Weg zum Arzt, zum x-ten Spezialisten, eine Katastrophe. Gerade einmal sechs Monate ist es her, dass ihre Karriere als Ausdruckstänzerin verheißungsvoll begonnen hat: Tanzabende in München, Berlin, ja sogar in Zürich und Prag, die Kritiken freundlich bis begeistert. Dann: ein falscher Sprung, seither der stechende Schmerz, Tanzen bis auf Weiteres passe.
Die junge Frau ist Leni Riefenstahl. Noch wird ein Jahrzehnt vergehen, bis aus ihr die Riefenstahl wird, die erst berühmte, dann berüchtigte Filmregisseurin der Nazis. An diesem Junitag ist sie noch eine ebenso fanatische wie frustrierte junge Tänzerin, die ungeduldig auf die nächste U-Bahn wartet.
In ihren Memoiren wird sie sich an jenen Wendepunkt ihres Lebens so erinnern: »Meine Augen glitten über die […] Plakate der mir gegenüberliegenden Wand, und plötzlich
blieb mein Blick an einem hängen. Darunter stand Berg des Schicksals - Ein Film aus den Dolomiten von Dr. Arnold Fanck. Eben noch von traurigen Gedanken über meine Zukunft gepeinigt, starrte ich wie hypnotisiert auf dieses Bild, auf diese steilen Felswände, den Mann, der sich von einer Wand zur anderen schwingt.«
Leni Riefenstahl vergisst die U-Bahn, vergisst den Schmerz im Knie, vergisst den Arzt und geht ins Kino. Noch während der Berg des Schicksals läuft, beschließt sie, dass sie, die Ur-Berlinerin, dorthin muss, zu den steilen Felsnadeln und -türmen. Nie hätte sie geahnt, dass Berge so schön sein können. In der Nacht liegt sie lange wach. Eine Frage lässt ihr keine Ruhe: Ist es wirklich nur die Natur, die sie gepackt hat, oder ist es die Kunst, mit der jener Film gestaltet ist?
Der Mann, der mit halb weiß verschmiertem Gesicht aus der Hütte gestürmt kommt, tobt. »Da schäm i mi! Da schäm i mi vor die Berge!«
Dr. Arnold Fanck seufzt. Das hat er nun davon, dass er nicht mehr wie bisher mit dem eingeschworenen Grüppchen seiner Bergfreunde dreht, wo jeder mal die Kamera hält, mal selbst auf Skiern durchs Bild fegt. Wenn dieser Film nur nicht sein Berg des Schicksals wird. Aber was hilft’s, schließlich weiß er, dass er in eine Sackgasse geraten ist. Die mehr oder weniger handlungsfreien Filme laufen nicht mehr. »Schluss mit der Kletter-Doku, Schluss mit dem Ski-Dada«, hat ein Filmkollege neulich zu ihm gesagt. »Richtiges Kino braucht richtiges Drama. Und richtiges Drama braucht richtige Darsteller.«
Schön sind die Probleme, mit denen er sich jetzt herumschlagen muss, trotzdem nicht. Angefangen hat es mit diesem Züricher
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