Die deutsche Seele
Heimat, Kleinstaaterei, Narrenfreiheit, Reinheitsgebot
Bruder Baum
Mit Bäumen ist in Deutschland nicht zu spaßen. Vereisen im Winter die Gehwege, bricht sich das alte Mütterchen den Oberschenkelhals. Salz gestreut wird trotzdem nicht. Denn das wissen die Baumschutzbehörden zu vermelden: Streusalz ist eine echte Gefahr für unsere Straßenbäume. Und in Gefahr möchte das alte Mütterchen den Lindenbaum vor seiner Tür keinesfalls bringen. Schnitt sie nicht in seine Rinde so manches liebe Wort? Und fand sie nicht stets Ruhe dort, wenn ein falscher Bube ihr das Herz gebrochen? Bevor der alte Lindenbaum eine Blattrandnekrose riskiert, riskiert das alte Mütterchen den Oberschenkelhals.
Des Mütterchens rüstige Schwester fährt derweil nach Stuttgart, um sich dort an einen Baum zu ketten. Stadt, Land, Bund und Bahn möchten einen neuen Bahnhof bauen. Dafür aber sollen jahrhundertealte Platanen im benachbarten Schlossgarten gefällt werden. Die deutsche Seele blutet. Und kämpft. Umsonst. Die Platanen müssen ihr Leben lassen. Ihre Kronen werden abgesägt, ihre Stämme geschreddert, ihre Wurzeln aus dem Erdreich gerissen. Des Mütterchens rüstige Schwester sagt, sie habe seit dem Zweiten Weltkrieg nichts Schrecklicheres gesehen. Die Bilder der schwäbischen Baumschützer bringen es bis in die New York Times.
Wer sich an Bäumen vergreift, dem ist nicht über den Weg zu trauen. Das weiß schon Reichsgründer Otto von Bismarck. In seiner Autobiografie Gedanken und Erinnerungen urteilt er über Leo von Caprivi, der 1890 als sein Nachfolger ins Berliner Reichskanzlerpalais einzieht: »Ich kann nicht leugnen, dass mein Vertrauen in den Charakter meines Nachfolgers einen Stoß erlitten hat, seit ich erfahren habe, dass er die uralten Bäume vor der Gartenseite seiner, früher meiner, Wohnung hat abhauen lassen.«
Wäre der »Eiserne Kanzler« bereit, die Schlichtungsverhandlungen im nächsten Baumkampf zu leiten? Oder würde er lieber im schattigen Garten seiner Altersresidenz sitzen bleiben, während vom Nachbargrundstück ein leises Lied herüberweht: »Mein Freund, der Baum, ist tot. Er fiel im frühen Morgenrot…«
Holzfällen in Deutschland ist eine heikle Mission. Seit 723. Bei Geismar im heutigen Nordhessen stand einst eine mächtige Eiche. Sie war dem Wetter- und Gewittergott Donar geweiht. Die alten Germanen verehrten diese Eiche als eines ihrer wichtigsten Heiligtümer, erflehten in ihrem Schatten freundliches Klima und wanden ihr Kränze. Doch dann kam Bonifatius. Der christliche Missionar war aufgebrochen, den heidnischen Germanen zu beweisen, dass ihre Götter machtlos seien. Unter dem Schutz von Soldaten fällt er die Donar-Eiche. Kein Gewitter verdunkelt den Himmel. Kein Blitz erschlägt ihn. Aus dem Holz der Donar-Eiche lässt Bonifatius eine Kapelle bauen und weiht sie dem Heiligen Petrus. Die Chatten (Hessen) werden als erster germanischer Stamm außerhalb der schon zu Römerzeiten missionierten Rheinlande christlich. (An dieser Stelle eine kleine Empfehlung an den Chef der Deutschen Bahn: Sollten wieder einmal Platanen gefällt werden müssen - nicht schreddern, sondern Wartesaalbänke schreinern lassen.)
Obwohl die bedeutsamste Baumfällung in der Geschichte Deutschlands mit einem Triumph des Christentums endet, scheint sie dunkle Flecken auf der deutschen Seele hinterlassen zu haben. Ist es nicht subtile Rache für die Donar-Eiche, wenn der romantische Poet Max von Schenkendorf knapp iioo Jahre später sein Gedicht Der Dom zu Köln mit den Versen eröffnet: »Es ist ein Wald voll hoher Bäume, / Die Bäume seh’ ich fröhlich blüh’n, / Und aus den Wipfeln fromme Träume / Zum fernen Reich der Geister flieh’n.«
Tief im Innern der christianisierten Brust pocht noch immer das altgermanische Baumherz. Das schreckt auch nicht davor zurück, dem donnerndsten aller deutschen Christenmenschen, Martin Luther, von Wittenberg bis Schwieberdingen Eichen, Buchen oder Linden zu widmen, als habe es den Zwischenfall von 723 nie gegeben. Wer glaubt, der Reformator sei mit diesem postumen Götzendienst einverstanden - schließlich habe er selbst erklärt, er würde heute noch ein Apfelbäumchen pflanzen, wenn er wüsste, dass morgen der jüngste Tag wäre -, sei gewarnt: Das sonntagsbeliebte Zitat ist in Luthers Schriften nirgends zu finden. Zum ersten Mal taucht es in einem Rundbrief der hessischen Kirche vom Oktober 1944 (!) auf.
Der Deutsche sucht das Gespräch. Mit Bäumen. Der ertaubende
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