Die deutsche Seele
mit Mörike und Hölderlin. Und mich wollt ihr mit Heino abspeisen.
Buche: Das Lied ist viel älter als Heino.
Tanne: Weiß ich. Musste oft genug zuhören, wenn’s die Klampfenpimpfe in Böhmen gesungen haben. Buche: Die Vertriebenenverbände singen es heute noch gern. Aber es gibt da auch ein sehr schönes Rilke-Gedicht: »Die hohen Tannen atmen heiser …« Tanne: Buche, du nervst. Diskutiert ohne mich. (Tanne ab. Schweigen im Walde.)
Linde: Soll ich ihr hinterher gehen? Meint ihr, sie tut sich was an?
Buche: (nachdenklich) In einem Punkt spürt sie schon etwas Richtiges. Ein Baum, der das ganze Jahr gleich grün im Gelände steht, kann nicht Anspruch darauf erheben, der deutsche Baum zu sein. Wer dieses Stirb und werde! nicht hat, dieses alljährliche Ausschlagen, Aufblühen, Verdorren, Kahlsein - wie soll der das deutsche Gemüt in all seiner unruhigen Tiefe widerspiegeln? - Wenn ihr mich bitte entschuldigen würdet. Ich denke, ich sollte eine kleine Abhandlung darüber schreiben.
(Buche ab.)
Linde: Ich mache mir wirklich Sorgen. Vielleicht gelingt es mir, die Tanne vor einer Dummheit zu bewahren. (Linde ab.)
Eiche: Und wer bleibt am Schluss mal wieder übrig?
(Eiche allein. Auf der Lichtung erscheint die deutsche Schriftstellerin.)
Deutsche Schriftstellerin: Liebe Eiche, verzeih, dass ich dich störe, aber ich wollte dich die ganze Zeit schon etwas fragen. Nur war es mir unangenehm, solange die anderen dabeistanden. Eiche: (mürrisch) Ja?
Deutsche Schriftstellerin: Die Geschichte am Ettersberg. Eiche: Was soll da gewesen sein?
Deutsche Schriftstellerin: Sag nicht, du hast das vergessen. Die Goethe-Eiche in Buchenwald.
Eiche: Damit habe ich nichts zu schaffen. Das ist euer Problem.
Deutsche Schriftstellerin: Das leider auch zu deinem Problem geworden ist. Wie sollen wir noch unbeschwert über dich schreiben nach dem, was die Nazis dort getan haben?
Eiche: Was kann ich dafür, dass die braunen Barbaren mich damals als einzigen Baum zwischen Lagerküche und -Wäscherei haben stehen lassen? Und nur, weil der Herr Geheimrat in meinem Schatten herumpoussiert haben soll? Im Übrigen habe ich meine Strafe bekommen, als mich irgendein amerikanischer oder britischer Bomber 1944 abgeschossen hat. Lassen wir das. Gefühlsduselei war mir stets zuwider.
Deutsche Schriftstellerin: Gefühlsduselei? Lagerhäftlinge mussten deine verkohlten Reste abholzen! Weißt du, was Joseph Roth in seinem letzten Artikel, kurz vor seinem Tod im Pariser Exil, über dich geschrieben hat? Eiche: Wenn du deutsche Geschichte diskutieren willst, geh zur Buche! Schließlich hat sie das noch größere Problem. Buchenwald\ Was für ein Name für ein Konzentrationslager! Und wieder alles nur wegen Goethe. Weiß doch heute ohnehin keiner mehr, dass er die Eingebung zu Wanderers Nachtlied am Ettersberg hatte.
Deutsche Schriftstellerin: Ich lese dir vor, was Joseph Roth im Mai 1939 über dich geschrieben hat: »Fürwahr! man verbreitet falsche Nachrichten über das K-Lager Buchenwald; man möchte sagen: Greuelmärchen. Es ist, scheint mir, an der Zeit, diese auf das rechte Maß zu reduzieren: An der Eiche, unter der Goethe mit Frau von Stein gesessen ist - und die dank dem Naturschutzgesetz noch wächst -, ist bis jetzt, meines Wissens, noch kein einziger der Insassen des K-Lagers >angebunden< worden; vielmehr an den anderen Eichen, an denen es in diesem Wald nicht mangelt.«
Eiche: In meinen Stamm ist die Schande für immer eingeschrieben. Soll ich mir jährlich die Rinde herunterreißen, damit kein Holz darüber wächst?
Deutsche Schriftstellerin: Du sollst mir nur helfen in meiner Ratlosigkeit.
Eiche: Kind, das musst du mit dir allein ausmachen.
(Die Eiche verschwindet im Dunkel.)
Da stehen wir also. Befangen. Beklommen. Und wissen nicht weiter. Das Gespräch mit Bäumen hat seine Unschuld verloren. Wenn die größten Baumschützer die größten Bestialitäten begehen - wem ist dann noch zu trauen? Der Baumschützer kann sich nicht länger in der Gewissheit wiegen, er sei schon deshalb ein guter Mensch, weil er ein Herz für Bäume hat. Ein Herz für Bäume beweist nichts. Aber kein Herz für Bäume beweist noch weniger. Ein Eichenwald ist kein Damm gegen den Zivilisationsbruch. Und dennoch wird die Welt kein zivilerer Ort, wenn wir vergessen, dass die Bretter, die die Zivilisation bedeuten, einmal ein Eichenwald gewesen sind.
Lauschen. Nicht brüllen. Vielleicht ist es das Einzige, was wir unter Bäumen lernen können.
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