Die deutsche Seele
in den Wartesaal, den Expressionismus des Weltuntergangs konnte sie aber damit nicht ausblenden. Zwei große deutsche Gedichte der so angestimmten Moderne, von Ernst Stadler (Fahrt über die Kölner Rheinbrücke bei Nacht, 1913) und Jakob van Hoddis (Weltende, 1911), sind so düster, dass man annehmen könnte, sie seien im Schützengraben entstanden.
Für Stadler ist die ganze Welt »ein enger, nachtumschienter Minengang«. Der Expressionismus ist nicht eine Folge des Weltkriegs und seiner Zerstörungen und Verstörungen, er ahnt die Katastrophe vielmehr voraus. »Die Eisenbahnen fallen von den Brücken«, heißt es dagegen lapidar bei Jakob van Hoddis. In dieser Gefühlsdoppelung von Aufbruch und Untergang wird die Bahn zum Bedeutungsgiganten.
Je größer die technische Leistung erscheint, von der man auszugehen hat, desto größer ist auch der Zweifel an ihr. Neben den Traum der Erkenntnis tritt der Albtraum der Folgen der Erkenntnis. Fontanes Ballade Die Brück’ am Tay zitiert 1879, angesichts eines schottischen Eisenbahnunglücks, das berühmte »Tand, Tand ist das Gebilde von Menschenhand«. Die Hexen des Macbeth beherrschen anspielungsreich den Katastrophenort. Sie symbolisieren die Naturgewalten, die vom Menschen nicht zu bändigen sind, und vom Realisten, fügen wir hinzu, schwer zu beschreiben. Er umgeht das Problem durch den Shakespeare-Verweis.
Das Kaiserreich kennt nicht nur den wilhelminischen Machttraum von der Bagdad-Bahn, die den Nahen Osten oder Vorderen Orient, wie er damals hieß, durch einen Schienenstrang von Berlin nach Bagdad unter deutsche Kontrolle bringen sollte. Es hat auch den Bahnwärter Thiel aus der Studie von Gerhart Hauptmann. Sie trug sich in Neu-Zittau bei Erkner nahe Berlin zu. Idylle und Unergründlichkeit verschmelzen darin.
»Es ist still ringsum geworden, totenstill; schwarz und heiß ruhen die Geleise auf dem blendenden Kies. Der Mittag hat die Winde erstickt und regungslos wie aus Stein steht der Forst.« Das war 1887. Auf einem Nebengleis, wie es tausend andere gab. Das aber Ort eines Menschenschicksals wurde.
An den großen Trassen zwischen den Metropolen lagen sie zu Hunderten, die kleinen Bahnhöfe, die vielen Haltestellen, die man sich alle gar nicht merken konnte, wenn man mal auf einer Nebenstrecke fuhr.
Noch gibt es sie, die Bahnhöfe der kleinen Orte, der bloßen Haltestellen, wenn sie auch seit Jahren zum Verkauf stehen, aber wer will sie schon erwerben und wozu? Sie wurden zum Wohnen angeboten, dafür aber eignen sie sich kaum.
Schließlich liegen sie an der Bahn, und, selbst wenn sie nicht mehr halten, rasen die Züge doch mit dem typischen Lärm am ehemaligen Bahnhof vorbei. Und nicht zu vergessen, der Nahverkehr. Das tägliche Pendlervolk, das sich schon morgens um sechs auf den Weg macht. Die eine Hälfte schweigt eine Zigarette lang, die andere Hälfte ist lustig wie die Moderatoren im Frühstücksfernsehen. Das alles ist nicht die Wahrheit, aber die Realität.
In dieser Realität folgt gegen sieben Uhr der Nachwuchs, die Teenager, die es in die Schulen treibt, in die Stadt nebenan und wieder zurück. Hin und her.
Der eigentliche Sinn der Fahrt: das allgemeine Grabschen. Als wären sie alle miteinander verlobt, wie man früher gesagt hätte. Aber was hat eine Verlobung schon mit einer Zugfahrt zu tun oder gar mit dem Nahverkehr? Egal. Später verliert man sich ohnehin aus den Augen.
Wer ein Bahnhofsgebäude erwirbt, rechnet zumindest insgeheim mit der Stilllegung der Strecke, und das, obwohl ihm klar ist, dass er, wenn er zu seinem Geschäft kommen will, sich in Zukunft ins Auto zu setzen hat. Anders kommt hier keiner mehr fort. Trotzdem fasziniert ihn der Gedanke, einen Bahnhof zu erwerben. Es ist, als würde er damit über das Gleis verfügen. Als wäre er in der Lage, etwas, was auch immer das sein mag, aufgrund seines Willens anzuhalten und, was noch wichtiger ist, loslassen zu können. Als hätte er nicht nur einen Bahnhof erworben, als hätte er auch die Verfügung über den Fahrplan.
Der neue Besitzer des Bahnhofsgebäudes steht vor seinem unverhofften Haus und blickt unwillkürlich auf die Uhr, auf die Bahnhofsuhr, die er beibehalten hat. Als wollte er die Pünktlichkeit eines Zuges prüfen, den es längst nicht mehr gibt. Den Zug gibt es zwar nicht mehr, aber die Menschen, wie die Lokalzeitung schreibt, zumindest die Anwohner, wissen noch von ihm.
So ist die Unpünktlichkeit der Bahn eines der großen Themen der Lokalzeitung. Nach
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