Die deutsche Seele
übermenschlich, wenn du ein Mensch bleibst?« Und Faust entgegnet: »Wozu Mensch, wenn du nach Übermenschlichem nicht strebst.« Der Rest ließe sich gut überspringen. Dem Don Juan genügt sein Herzschlag. Das Wissen ist für ihn bloß Vorwand.
Goethe hat in einer nahezu lebenslangen Beschäftigung die Figur in seinen eigenen Klassik-Gestus gedreht. Bei ihm heißt es: »Nur der verdient sich Freiheit wie das Leben, der täglich sie erobern muss.« Goethe hat den Faust ins Weltliterarische übertragen. Er hat aus der Figur einen Prototypen des nach Erkenntnis strebenden, tätigen Menschen gemacht. »Dass ich erkenne, was die Welt im Innersten zusammenhält«, heißt es bei ihm. Er hat den Faust aus dem Zwielicht des späten Mittelalters befreit und ins Licht der Weimarer Klassik gehoben. Er hat in der Ungeduld des Goldmachers die Unruhe des Denkers gefunden.
Später, viel später, im 20. Jahrhundert, ist es Thomas Mann, der die Faust-Frage angesichts des Absturzes der deutschen Seele neu stellt. Er erweckt ihn zum Musiker Adrian Leverkühn, was aber konnte der noch - der Roman erschien 1947 - richten? Anders gefragt: Hätte er nicht der Mann der Stunde sein können in der Nachkriegszeit, als es durchaus um das Übermenschliche ging, um die übermenschliche Anstrengung? Jene, die nötig war, um aus den Ruinen wieder Städte zu machen, gefestigte Orte für das Überleben des Deutschen. Wäre er nicht der unentbehrliche Ingenieur? Aber was ist schon ein Ingenieur für einen Goethe oder einen Thomas Mann? Noch dazu ein VW-fahrender Ingenieur?
Faust? Was soll Faust mit einem VW? Es gibt wenig, was ernüchternder sein könnte, als nach einer Dürrenmatt-Premiere aus dem Theater ins Freie zu treten, das Freie als Parkplatz zu erkennen und danach in einem VW Käfer Platz zu nehmen.
Nein, in der Nachkriegszeit war Faust nicht vorgesehen. Zum einen hatten die Nazis zu viel an ihm herumgedoktert, zum anderen ging es weder um eine große Zukunft noch um des Pudels Kern. Es ging zunächst einmal darum, dass es weiterging. Dafür aber brauchte man keinen Faust, dafür genügte ein Ludwig Erhard.
So konnte aus unserem Nachkriegs-Faust nicht viel werden. Er verlor sich in der Masse, die abwechselnd über Entfremdung, Anpassung und den Verlust aller Mitte debattierte.
Nach einigen Darstellungen, die aber auch frei erfunden sein können, ist Faust seit einem Aufenthalt in Donaueschingen verschollen. Er sei bei einem Experiment verschwunden. Es soll ein musikalisches gewesen sein. In gewisser Weise Schwarzkunst. Beim neu ins Leben gerufenen Festival der Musik, ein Avantgarde-Aushängeschild der biederen Republik. Ob er den Leverkühn geben wollte?
Nach dem Einsatz der Atombombe war jedes Gespräch zwischen Faust und Mephisto für die einen eine Zumutung und für die anderen eine Geringfügigkeit. Die Wissenschaftler der jungen Bundesrepublik ziehen sich aus der Affäre. Sie warnen öffentlich vor ihrer Arbeit. Sie setzen sich an die Spitze der gesellschaftlichen Moralbewegung, wie Carl Friedrich von Weizsäcker, oder gehen gleich nach Amerika, wie Wernher von Braun. Den Rest der Last überantworten sie den Schriftstellern, zunächst den Schweizern Friedrich Dürrenmatt und Max Frisch. Sie sind für die Nachkriegs-Bundesrepublik unbelastet und daher zur moralischen Verhandlung des Geschehenen legitimiert. Dürrenmatt lässt seine Physiker über ihr Tun meditieren, und Frisch zieht ein weiteres Mal den Don Juan aus der Tasche, Don Juan oder die Liebe zur Geometrie. Wenn das Verbrechen so deutlich in Erscheinung getreten ist, dass das Tragische einer Handlung nicht mehr plausibel ist, kann Don Juan wieder auf den Plan treten.
1962 erscheint ein Buch mit dem Titel Paust und das Paustische. Sein Autor ist Hans Schwerte, und das wiederum ist jener Germanist, der unter dem Namen Hans Schneider in Himmlers Stab beschäftigt war. Er hat es in der Nachkriegszeit unter falscher Identität zum Rektor der RWTH Aachen gebracht. Faust?
Eine letzte Version erfährt der Stoff durch den Versuch, ihn in der DDR einzugemeinden. Der Stalinismus versetzt den Faust aus seiner Dialektik ins Paradoxe: In Hanns Eislers Johann Faustus lässt der Autor seinen Helden vor dem Vorhang sagen: »Ich dachte, sie werden mich verfolgen. Schlimmres ist geschehen: Sie kamen mich zu ehren. Ich will alles gestehen.«
Zur Erinnerung: In der DDR führte Mephisto die Amtsgeschäfte.
In der Bundesrepublik eroberte sich, nach einer ersten Unsicherheit, verursacht
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