Die deutsche Seele
auf.
Vergaß man seinen symbolischen Wert, war das Sparwasser-Tor ohnehin nicht mehr als ein Pyrrhussieg gewesen. Indem der Magdeburger die DDR auf den ersten Gruppenplatz geschossen hatte, hatte er ihr im nächsten Durchgang Brasilien, die Niederlande und Argentinien als Gegner beschert, während die Bundesrepublik als Gruppenzweiter auf Jugoslawien, Schweden und Polen traf. Die westdeutsche Mannschaft nutzte die Gunst der leichteren Finalgruppe und erkämpfte sich mal zäh, mal beschwingt, mal wasserballartig den Einzug ins Endspiel; die Ostdeutschen fuhren mit zwei Niederlagen und einem Unentschieden hinter den Eisernen Vorhang zurück.
Der junge Gary Lineker wird das Finale von der englischen Insel aus im Fernsehen verfolgt haben. Möglicherweise kam ihm damals schon der Verdacht, dass - ganz gleich, was geschieht - die Deutschen ohnehin gewinnen werden. Der Glanz war auf Seiten der Holländer und trug den Namen Johan Cruyff. Die Verbissenheit war auf Seiten der Deutschen und trug den Namen Berti Vogts. Die Verbissenheit siegte. Cruyff verlor, nachdem er dem »Terrier« in der ersten Spielminute noch entwischt war und Uli Hoeneß zu einem Foul im deutschen Strafraum verleitet hatte, unter der lästigen Dauerbewachung die Lust am Spiel. Im Gegenzug stürzte Bernd Hölzenbein im holländischen Strafraum (freiwillig oder nicht), Paul Breitner griff sich den Ball, glich aus, Gerd Müller schoss kurz vor Ende der ersten Halbzeit das zweite Tor. Eine Stunde später war das Spiel aus. Die Bundesrepublik Deutschland war zum zweiten Mal Weltmeister geworden.
Ahnlich stoisch kommentierte Rudi Michel das Geschehen fürs deutsche Fernsehvolk. Das Maximum an Freudentaumel, zu dem sich der Reporter nach dem Schlusspfiff hinreißen ließ, klang so: »Und jetzt, meine Herren, können Sie langsam die Sachen entkorken … die besseren Sachen, und Sie, meine Damen, können mittrinken.«
Nicht mittrinken in jener fußballhistorischen Nacht sollten hingegen die deutschen »Spielerfrauen«. Angeblich verwehrte ein DFB-Funktionär der Hoeneß-Gattin den Zutritt zum Festbankett mit der Bemerkung: »Hier herrscht noch Zucht und Ordnung« - woraufhin die siegreichen Fußball-»Revoluzzer« das Hilton-Hotel verließen und in Münchner Diskotheken ganz ohne Offizielle feierten.
Die Anekdote passt ins Bild, das linksintellektuelle Fußballfreunde noch heute vom »Ramba-Zamba«-Team der Siebziger pflegen. Aber hatte es sich bei den Konflikten zwischen den »jungen Wilden« und den Altvorderen des DFB tatsächlich um den großen weltanschaulichen Zusammenstoß der Generationen gehandelt? Oder nicht doch eher um einen Wandel, der fürs deutsche Fußballverständnis zwar nicht weniger wesentlich war - aber rein gar nichts zu tun hatte mit einem idealistischen Sturm gegen braune Verkrustungen?
Bereits vor dem Eröffnungsspiel der WM hatte es in Malente wüste Auseinandersetzungen zwischen der Mannschaft und ihrem Trainer bzw. dem DFB gegeben. Dabei war es allerdings mitnichten darum gegangen, dass Helmut Schön über das »Dritte Reich« einmal gesagt hatte, dass es »trotz des sinnlosen Krieges, der das Leben immer mehr beeinflusste, […] für uns Sportler eine herrliche Fußballzeit« gewesen sei. Es war um Geld gegangen. Um die Prämien, die der DFB seinen Spielern im Fall des Titelgewinns zahlen wollte.
Die »Helden von Bern« waren überglücklich gewesen, als jeder von ihnen tausend D-Mark und dann noch einmal zweihundert Mark pro Auftritt erhalten hatte. 1974 bot der DFB 30000 Mark pro Spieler an - ein obszön niedriges Angebot, wie die »jungen Wilden« fanden.
Günter Netzer war 1973 als erster deutscher Profi seit Gründung der Bundesliga ins Ausland gegangen - zu Real Madrid. (»Uns« Uwe Seeler hatte 1961 das millionenschwere Angebot, seinen Heimatverein, den HSV, für Inter Mailand zu verlassen, noch stolz abgelehnt.) Doch auch die anderen, die in Deutschland geblieben waren, hatten präzise Vorstellungen davon, welche Summen international im Spiel waren. Brasilianern und Italienern waren von ihren Verbänden angeblich bis zu 150000 Mark Titelprämie in Aussicht gestellt worden. Der »rote« Paul Breitner, der nach der WM ebenfalls als Edel-Legionär ins faschistische Franco-Spanien ging, drohte damit, aus Malente abzureisen. Auch Helmut Schön wollte entweder selbst hin- oder den gesamten Kader hinausschmeißen - die Profitgier der Jüngeren widerte ihn an. Am Schluss einigte man sich auf 70 000 D-Mark.
Wie viel einfacher
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