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Die deutsche Seele

Die deutsche Seele

Titel: Die deutsche Seele Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thea Dorn
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Patriotismus steigt hier aus der Versenkung, selbst wenn im Biergarten wieder die Nationalhymne gesungen wird und Abertausende von Fahnen geschwenkt werden. Alles nur Partyotismus. Dieses Leben bietet so viel mehr…
    Im Film zum Märchen, mit dem der Regisseur Sönke Wortmann vom DFB beauftragt worden war, erzählt Team-Manager Oliver Bierhoff, wie sie das Mannschaftsquartier, das von Karl Lagerfeld aufs Allergediegenste eingerichtete Schlosshotel in Berlin-Grunewald, mit Loungemöbeln und Play-Stations so umdekoriert haben, dass sich die jungen Spieler dort »austoben« können. Als Bundeskanzlerin Angela Merkel die Mannschaft besuchte, fragte Torwart Jens Lehmann, der zu diesem Zeitpunkt beim FC Arsenal angestellt war, was für ihn »als Vater von drei Kindern« ein Anreiz sein könnte, wieder nach Deutschland zurückzukehren. Merkels Antwort: »Das Erste, was mir einfällt, ist das Elterngeld.« Der Witz kam an.
    Und dennoch: Versuchte die Fußballweltmeisterschaft 2006 nicht stärker an das nationale »Wunder von Bern« anzuknüpfen als die von 1974? Damals hatten die Offiziellen darauf verzichtet, das zwanzigjährige Jubiläum groß zu feiern. Erst zum fünfzigjährigen Jubiläum, im Vorfeld der zweiten WM auf deutschem Boden, war massiv daran gearbeitet worden, den Mythos aufzupolieren. Sönke Wortmann hatte einen gefühlvoll-versöhnlerischen Spielfilm gedreht, der sogar den damaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder bei der Uraufführung zu Tränen gerührt haben soll. Welten liegen zwischen diesem Film und Die Ehe der Maria Braun von 1979, in der Rainer Werner Fassbinder Herbert Zimmermanns exaltierte Reportage als Hintergrund benutzt hatte, um das Nachkriegs-Drama seinem tödlichen Ende entgegentaumeln zu lassen.
    Vielleicht war es den Organisatoren von 2006 nicht bewusst, aber indem sie die »Fanmeile« und damit das »Public Viewing« erfanden, machten sie dort weiter, wo die Deutschen im beginnenden Wirtschaftswunderland aufgehört hatten - nur dass das gemeinsame Fußballschauen diesmal keinem Mangel an Fernsehgeräten geschuldet war, sondern der Sehnsucht nach kollektiver Erfahrung. Und war das »Wir sind wieder wer!« im Jahre ’54 nicht letztlich dieselbe inhaltsleere Gefühlsaufrichtung gewesen, als welche sich die neue Lust am Flagge-Zeigen im Jahre 2006 erweisen sollte?
    Fußball ist ein Seelenspiegel. Allerdings kein magischer. Wer hineinschaut, sieht nicht mehr und nicht weniger als sich selbst. Das heißt für die Gegenwart: Wir sehen eine spielfreudige, multi-kulturelle, körperlich fitte Truppe, die nichts weiter will, als ihr Geld in Ruhe dort zu verdienen, wo es am meisten zu verdienen gibt, angeleitet von Männern in perfekt geschnittenen Hemden, bei denen keiner mehr zusammenzuckt, wenn sie »Organisation mit höchschter Disziplin« als deutsche Tugend preisen.
     
    >Feierabend, Grenzen, Gründerzeit, Heimat, Kleinstaaterei, Krieg und Frieden, Männerchor, Ordnungsliebe, Vereinsmeier

Gemütlichkeit
     
    Oh, deutsches Gemüt! Was bist du nicht alles: demütig, hochmütig, leichtmütig, gleichmütig, gutmütig, sanftmütig, einmütig, freimütig, kleinmütig, großmütig, langmütig, edelmütig, heldenmütig, übermütig, reumütig, wankelmütig, wehmütig, schwermütig. Bisweilen zeigst du dich anmutig, unmutig, missmutig, wagemutig, todesmutig. Nur selten bist du wohlgemut, von frohgemut ganz zu schweigen.
    Solche Fülle an Gemüt braucht einen Ort, an dem sie sich zu Hause fühlen darf. Idealerweise ist dies die eigene Brust. Dort möge das Gemüt aufgehoben sein, sich nicht hetzen lassen von den Zeitläuften, auch wenn es jede Erschütterung aufs Empfindlichste registriert. Einen solchen Menschen dürfen wir als »gemütlich«, wenn nicht gar »gemütvoll« bezeichnen. Er gleicht dem Blatt, das jeder Windzug zum Zittern bringt und dennoch fest am Ast sitzt. Doch Blätter haben die Neigung zu fallen, fürchten sich vor den Winden, die sie heillos durch die Welt wirbeln wollen. Je weniger Halt das Gemüt in der eigenen Brust findet, desto heftiger drängt es danach, sich Trutzburgen der Gemütlichkeit zu errichten.
    Die Karriere der Gemütlichkeit beginnt im frühen 19. Jahrhundert: Biedermeier I, Die Industrialisierung schickt Dampfmaschinen vor sich her, die dunkle Wolken ausstoßen, Eisenbahnen schneiden sich durchs Land. Mechanische Webstühle rattern, als wollten sie das Maschinengewehr vorwegnehmen. Aktiengesellschaften treiben ihr tolles Spiel mit Papier, das heute alles und

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