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Die deutsche Seele

Die deutsche Seele

Titel: Die deutsche Seele Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thea Dorn
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ein 6:1 gegen Österreich im Halbfinale. Rahn dabei, Rahn schießt kein Tor, das tun an diesem Tag Schäfer, Morlock und dann immer wieder Walter, mal Fritz, mal Ottmar, die Brüder, die Mannschaft, eine Freude. Daheim jubelt die Welt: »Wir werden gewinnen, sagten die Österreicher und lächelten. Wir wollen gewinnen, sagten die Deutschen mit finsterer Miene. Kein Wunder, dass die Männer von der blauen Donau untergingen.« Nur einmal kurz müssen die Deutschen doch lächeln, als sie im österreichischen Kurier lesen, es sei ein »Sieg der nur aufs Endziel ausgerichteten Roboter über die Vertreter der Ästhetik« gewesen. Aber wer hat jetzt Zeit für Zeitungslektüre, der 4. Juli ist da. Das Wunder, von dem Zarah Leander mitten im Krieg gesungen hatte, sie wisse, dass es einmal geschehen werde - heut’ wird’s Ereignis. Dem Fritz sein Wetter haben die Götter schon geschickt, es regnet, es gießt, es strömt. Schnell noch die Schraubstollen am Fußballschuh gewechselt, Vorsprung durch Technik, die Ungarn werden sich wundern. Die Ungarn wundern sich. Die Deutschen, die daheim millionenfach an den Fernseh- und Radio-Apparaten kleben, wundern sich. Der Reporter entschwebt ins Fußball-Wunderland: »Halten Sie mich für verrückt! Halten Sie mich für übergeschnappt! […] Schäfer flankt nach innen! Kopfball! Abgewehrt! Aus dem Hintergrund müsste Rahn schießen - Rahn schießt! Tor! Toor! Toor! Tooor!«
    Die Herbergerschlacht ist aus. Ihr aber kommt, ihr wackern Söhne Teuts, und lasst, im Hain der stillen Eichen, Wodan für das Geschenk des Siegs uns danken …
    Deutschland taumelt. In West. Und in Ost. Die Welt macht sich Sorgen. In Le Monde erscheint ein warnender Bericht aus Bern: »Die Erde zittert. Es regnet. Es regnet, und mir ist kalt. Eben schon, als die 60 000 Deutschen brüllten, überlief mich ein Schauer […] Strahlend, jung, begeistert singen sie kraftvoll, dass die ganze Welt es hören und wissen soll, dass wieder einmal Deutschland über alles< ist.«
    In der Tat hatten die eilends fürs Endspiel angereisten Fans im Wankdorfstadion die erste Strophe der Nationalhymne angestimmt. Und DFB-Präsident Peco Bauwens hatte zwei Tage nach dem Wundersieg im Münchner Löwenbräukeller eine Festrede gehalten, in der er Wotan, dem alten »Germanengott«, für dessen Hilfe gedankt und vom »Führerprinzip in der Mannschaft« geschwärmt hatte. Aber gab es wirklich Grund zu erneuter Sorge? Oder waren es nicht vielmehr letzte Zuckungen der alten Gewohnheitsmacht? Der Bayerische Rundfunk hatte die Übertragung der entgleisten Rede sofort abgebrochen, die Süddeutsche Zeitung hatte am 5. Juli behutsam getitelt: »Ein großer Sieg, ein großer Tag, aber nur ein Spiel«, und als Bundespräsident Theodor Heuss der deutschen Mannschaft wenig später das Silberne Lorbeerblatt verlieh, rügte er indirekt Reporter Herbert Zimmermann dafür, dass er im Eifer des Gefechts Torwart Toni Turek zum »Fußballgott« erhoben hatte: »Wir sind wegen des Sportes da. Ich glaube, wir sollten ihn außerhalb der Politik halten. Wir sollten auch die Werte nicht verschieben lassen.«
    Und die Werte verschoben sich nicht. So wie der Kameradschaftsmythos, der in Stalingrad blutig untergegangen war, im »Wunder von Bern« seine zivile Neugeburt erlebt hatte, wurden auch den Helden keine martialischen Denkmäler errichtet - man überhäufte sie mit Goggo-Rollern, Suppenwürfeln, Porzellanfiguren und Enzianschnaps. Die Deutschen blieben am Nierentisch, auch wenn sie den unglücklichen Rahn bis zum Lebensende mit der Bitte verfolgten: »Hömma, Helmut, erzähl mich dat dritte Tor …« Die Helden mit dem Kleistschen Dramenpotenzial endeten zum Teil zwar tragisch, aber allesamt unheroisch als Tankstellenbesitzer, Zigarrenhändler, Sportlehrer.
    Den gelassensten und historisch hellsichtigsten Kommentar zum »Wunder von Bern« hatte die linksliberale Schweizer Nationalzeitung geschrieben: »Dass man sich in Deutschland noch mehr von einem Spiel als von Militärmärschen begeistern lassen kann, ist eigentlich eine Offenbarung eines natürlichen, gesunden Kerns.«
    Es scheint tatsächlich so: Je fußballverrückter Deutschland wurde - desto pazifistischer wurde es. Trotz oder gerade wegen der Wiederbewaffnungsdebatte, die die Gemüter in den fünfziger Jahren erhitzte. Es wäre übertrieben, hier einen ursächlichen Zusammenhang zu sehen. Aber das deutsche Streben danach, fußballerische Weltmacht zu werden, vertrug sich bestens mit dem Rückzug

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