Die deutsche Seele
aus der Weltpolitik. Auch wenn Sepp Herberger gesagt haben mag, Fußball sei »Krieg im Frieden« - in der Bundesrepublik hatte der national-chauvinistische Geist auch auf dem Rasen ausgespielt.
Nirgends wurde dies deutlicher, als 1974 die erste Fußballweltmeisterschaft in Deutschland stattfand. »Die Welt zu Gast bei Freunden« - zwar blieb es Werbeagenturen der 2000er Jahre vorbehalten, dieses Motto zum Slogan zu stanzen, aber genau dies war damals schon gemeint: Deutschland wollte sich als freundliches, friedliches, allen Exzessen abholdes Land präsentieren. Die Wirklichkeit sah freilich nicht ganz so harmlos aus: Zwei Jahre zuvor hatten palästinensische Terroristen bei den Olympischen Spielen in München elf Mitglieder der israelischen Mannschaft als Geiseln genommen - der verzweifelte Versuch deutscher Einsatzkräfte, die Sportler zu befreien, endete im tödlichen Debakel. Die führenden Gestalten der ersten RAF-Generation wie Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Ulrike Meinhof, die den »Schwarzen September« als »antifaschistisch« bejubelt hatte, saßen im Sommer 1974 noch immer in den Gefängnissen und warteten darauf, dass ihnen der Prozess gemacht würde. Die Sorge, dass andere Terroristen abermals versuchen könnten, die Gefangenen mit einem spektakulären Attentat freizupressen, war berechtigt. Im Mai hatte Bundeskanzler Willy Brandt im Zuge der »Guillaume-Affäre« sein Amt niedergelegt - und dann hatte das Los auch noch bestimmt, dass die westdeutsche Fußballmannschaft bereits in der Vorrunde auf die Mannschaft aus der DDR treffen würde.
Dies alles dürfte jedoch weniger der Grund dafür gewesen sein, dass die WM im eigenen Land mehr schlecht als gut gelaunt begann. 1972 war die Mannschaft um Trainer Helmut Schön zum ersten Mal Europameister geworden. Die westdeutschen Intellektuellen hatten spätestens in Wembley ihre Liebe zum runden Leder entdeckt, verklärten die zotteligwuschelköpfigen Spieler wie Günter Netzer oder Paul Breitner als Fußball-Revoluzzer und erwarteten ungestümen Ballzauber, während der gemeine deutsche Fan beschlossen hatte, dass der Weltmeistertitel diesmal kein Wunder, sondern Pflicht sei. Nur so ist zu erklären, dass der i:o-Sieg gegen Chile im Eröffnungsspiel wie eine Niederlage geschmäht wurde. Beim zweiten Spiel beschimpften die Zuschauer im Hamburger Volksparkstadion den »Spielführer« Beckenbauer als »Bayernschwein«. Kaiser Franz revanchierte sich, indem er in Richtung Publikum ausspuckte. (Und der DFB ahnte, dass es keine gute Idee gewesen war, auch das nächste Spiel der westdeutschen Mannschaft, die aus dem halben FC Bayern bestand, im hohen Norden stattfinden zu lassen.) Mit dem 3:0 gegen Australien hatte man sich vorzeitig für die nächste Runde qualifiziert - und schlich dennoch ungeliebt vom Platz. »Deutschland weg, hat kein Zweck«, skandierten plötzlich auch solche Fußballfreunde, denen im Leben noch kein »Ho, Ho, Ho-Chi-Minh« über die Lippen gekommen war. Vier Tage später durfte der deutsche Fußball-Sado-Masochismus sein größtes Fest bei dieser WM feiern: Der Magdeburger Stürmer Jürgen Sparwasser schoss sein berühmtestes Tor. Die BRD unterlag der DDR mit 0:1.
Es wäre der Moment gewesen, in dem Trainer Schön »seinen Jungs« die Hassbriefe der Bevölkerung hätte vorlesen müssen. Aber was hätte es gebracht? Weder genoss er die unangefochtene Autorität Herbergers noch hätten sich die Spieler-Individualisten mit einer Ruck-Rede zusammenschweißen lassen. Zwischen 1954 und 1974 lag mehr als zwanzig Jahre im Kalender. Der »Geist von Spiez« war in der »Nacht von Malente« allenfalls als Gespenst dabei. So übernahm beim Krisengipfel in der spartanischen Sportschule, in der die westdeutsche Mannschaft während der Vorrunde ihr ungeliebtes Quartier bezogen hatte, nicht der Trainer, sondern der »Spielführer« die Regie, der Libero, der freie Mann, der Kaiser. Und der Kaiser bewies, dass er die neue Zeit begriffen hatte, dass ein Appell an Kameradschaftsgeist und -ehre nicht genügte, auch wenn er die anderen Spieler aufforderte, den inneren Schweinehund zu besiegen. Massive Veränderungen in der Mannschaftsaufstellung mussten her. Begraben wurde der riskante Angriffsstil mit drei bis vier Spitzen, an dem das Herz von Trainer Schön seit der WM 1970 gehangen hatte. Der Kaiser verlangte nach einer stärkeren defensiven Absicherung - und bekam sie. Effizienz vor Schönheit. Über den Kampf zum Spiel. Die Rechnung ging
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