Die deutsche Seele
kein »harmloses Wort« sein könne, weil »Gemütlichkeit und Brutalität […] die psychischen Determinanten des Bandenlebens« seien. Im Spießbürger stecke eben immer schon der Spießgeselle, der allzeit bereit sei, auch mal richtig ungemütlich zu werden.
Die Kinder der 68er haben da weniger Berührungsängste. Aber sie haben das Wort »Gemütlichkeit« zum ersten Mal ja auch nicht aus dem Mund eines ehemaligen Gauleiters vernommen, sondern aus dem Mund eines niedlichen Zeichentrick-Bären, der noch dazu aus den USA stammt. Wie kann Gemütlichkeit etwas Verdächtiges sein, wenn es in Walt Disneys Dschungelbuch heißt: »Probier’s mal mit Gemütlichkeit, mit Ruhe und Gemütlichkeit …« Dass Balu, der Bär, im Original etwas ganz anderes singt: »Look for the bare necessities, the simple bare necessities«, dass er also nicht »Ruhe und Gemütlichkeit« empfiehlt, sondern eine Besinnung auf die schlichten Grundbedürfnisse - das finden die Post-68er erst später im Englischunterricht heraus. Aber dann ist es zu spät. Gemütlichkeit hat sich in ihren ängstlich gewordenen, kindlich gebliebenen Herzen als Sehnsucht festgesetzt, ganz gleich, wie kaltschultrig das Designersofa daherkommt, auf dem sie ihre Depression pflegen. Während die Laptop-Nomaden des frühen dritten Jahrtausends immer souveräner durch die Weiten des Internet surfen und zumindest in ihren Zwanzigern und Dreißigern bereit sind, den Wohnort fast so oft zu wechseln wie das Betriebssystem, vergeht ihnen der Leichtsinn früherer Generationen, die dem quietschenden und eiernden Globus versprachen, ihn zu schmieren, damit er wieder rund läuft.
Um Himmels willen, nicht noch mehr Beschleunigung! Geht es an den internationalen Börsen nicht turbulent genug zu? Die Rente wird ohnehin nur noch der Weihnachtsmann bringen, der Klapperstorch ist vom Aussterben bedroht, in den Kühlregalen gammelt das Fleisch, und der gemeinen Supermarkttomate ist schon längst nicht mehr über den Weg zu trauen. Irgendwo muss es doch einen Hafen geben! Und wenn’s nur die Lounge um die Ecke ist. Das eigene Nest wäre natürlich noch besser.
Das dritte deutsche Biedermeier hat wieder einmal genug von der Unwirtlichkeit unserer Städte. Junge Familien zieht es hinaus aufs Land, wo man vielleicht sogar eine Gartenlaube aufstellen kann. Und diejenigen, die in den Urbanen Zentren ausharren, versuchen, es sich dort zumindest ein bisschen gemütlich zu machen.
Neue Deutsche Mädchen, so der Titel eines 2008 erschienenen Buches, geben nicht mehr Gas, weil sie Spaß wollen, sondern treten auf die Bremse. So bekennt Elisabeth Raether, Jahrgang 1979, eine der beiden Autorinnen, die ihr rastloses Single-Leben zwischen Paris und Berlin beenden wollen: »Ich sehnte mich nach alten Formen, nach richtigen Möbeln, nach schweren Lampenschirmen, nach Bilderrahmen, die in die Wand gedübelt werden, nach Ordnung und Vorhersehbarkeit, nach Verlässlichkeit.« Zum Ende des Buches kann das »Neue Deutsche Mädchen« immerhin ansatzweise Erfolg vermelden: »Es war das erste Mal, dass ich eine Lammkeule gemacht habe. Vor ein paar Wochen habe ich meine erste Hühnersuppe gekocht […] Wir haben ein Bild an der Wand angebracht, ein großes, auf Metall aufgezogenes Foto von einem verschneiten Rosenkohlfeld, von den knorrigen Pflanzen, die halb mit Schnee bedeckt ungewöhnlich schön aussehen.« Irmgard Schütz-Glück wäre begeistert.
Oh, deutsches Gemüt! Ich verstehe, dass du ein Zuhause brauchst! Aber warum entsinnst du dich nicht dessen, was der österreichische Schriftsteller Karl Kraus schon 1912 erkannt hat: »Ich verlange von einer Stadt, in der ich leben soll: Asphalt, Straßenspülung, Haustorschlüssel, Luftheizung, Warmwasserleitung. Gemütlich bin ich selbst.«
>Abendbrot, Bauhaus, Fachwerkhaus, Feierabend, Heimat, Kitsch, Mutterkreuz, Ordnungsliebe, Puppenhaus, Schrebergarten, Strandkorb, Das Unheimliche, Vereinsmeier, Das Weib, Weihnachtsmarkt
German Angst
»Wenn die Deutschen noch Polytheisten wären, hätten sie sicher einen Angstkult, würden den Göttern der Angst Statuen aufstellen und ihnen Opfer darbringen.« Als Walter Laqueur, der israelisch-amerikanische Historiker mit deutschen Wurzeln, diesen Satz 1984 schrieb, konnte er nicht ahnen, dass knapp zwanzig Jahre später Christoph Schlingensief der Angst tatsächlich eine Kirche bauen würde. Wobei das Holzkapellchen, das zunächst auf der Biennale in Venedig ausgestellt war und später aufs Dach des Kölner
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