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Die deutsche Seele

Die deutsche Seele

Titel: Die deutsche Seele Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thea Dorn
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den erfolgreichsten Romanen der Zeit gehört Gustav Freytags Soll und Haben, ein Plädoyer für ein deutsches Bürgertum, das sich mit seinen Tugenden gegen die faule Aristokratie, aber auch gegen die »jüdische« Kaufmannsmentalität durchzusetzen habe.
    Die Gesellschaft des Kaiserreichs war eine Konsensgesellschaft. Laut Verfassung von 1871 handelte es sich sogar um einen Bundesstaat. In ihr agierten alle Kräfte, aber ohne dass ein Gleichgewicht zwischen ihnen austariert worden wäre, die Balance war bloß verordnet. Man kann es als ein Orchester betrachten, in dem es einen allgemein akzeptierten Dirigenten gab. Worüber man sich nicht ganz einig war, war das Stück, das er zu dirigieren hatte.
    Seine Legitimität konnte ein solcher Staatsklangkörper nur aus der historischen Bedeutung seines Handelns und in der ebenso historischen Begründung dieses Handelns beziehen. Kurzum, für die Noten des Stücks brauchte man dringend eine Quellenangabe. Nur so lässt es sich erklären, dass sich nach 1870 ganze Heerscharen von Interpreten der deutschen Geschichte über längst Vergangenes hermachen, um es in billigster Weise für den Gegenwartsstaat zu instrumentalisieren. Etwa so: »Der Franke wollte nun den Rhein, / der Bismarck sprach: das kann nicht sein. / Schlagt zu! / Bei Sedan fiel der Franke bleich / und neu erstand das Deutsche Reich. / Gebt Ruh!«
    In einem geradezu postmodernen Gestus wurde eine Erstidentifikationsbasis geschaffen. Das Kaiserreich legt sich in den 1880er Jahren einen wahren Denkmalsgürtel um. Er reicht vom Helden Hermann bei Detmold bis zur Germania im Niederwald.
    Die Historienbühne war der Tummelplatz für Intellektuelle, zeigte aber auch die Bruchstelle an, die der Konsens verdeckte. Sie betraf damals schon das Verhältnis der Intellektuellen zur Macht. Der Konflikt, den das Kaiserreich konzeptbedingt verursacht hatte, wurde durch die führende Rolle Preußens, durch die Wilhelminisierung des Reichs, fatal verschärft. Unausgesprochen, dafür aber umso symbolkräftiger, stand die Paulskirchenidee weiterhin im Konflikt mit dem Ordnungsstaat, auch Obrigkeitsstaat genannt, obwohl dieser sich durchaus auf Kant hätte berufen können, wäre er nicht so mickrig gewesen, so banausisch. Das Kaiserreich galt nicht nur als kleindeutsche Lösung, es war das auch. Worauf aber sollte sich im Jahr 1870 eine eventuelle Paulskirchenversammlung berufen? Etwa auf die Französische Revolution? Es war im Übrigen Frankreich, das 1870 Preußen den Krieg erklärte. Und es war nicht das Frankreich der Revolution, sondern das von Napoleon III., einem Putschisten.
    Der zerklüfteten deutschen politischen Landschaft fehlte die ordnende Hand eines modernen Staats, nicht der Gestus der Revolte. Zu den Begleiterscheinungen der historischen Verspätung gehörte auch die unzeitgemäße Zuordnung von Besitz und Autorität. Die deutschen Kleinstaaten hatten zwar die Verfügungsgewalt über ihre Bürger, aber sie hatten in deren Augen keine Autorität. Es wird stets beklagt, dass die Kleinstaaterei die Entstehung eines deutschen Nationalstaats verzögert habe. Das weitaus größere Problem aber besteht darin, dass die Zerklüftung die Einrichtung einer modernen Gesellschaft und deren Institutionen vielfach blockierte und, schlimmer noch, der Deformation unterwarf. Der Kleinstaat kann weder eine Gesellschaftspyramide ausstatten noch eine Nationalkultur einrichten.
    In Ermangelung anderer Faktoren wird die Bildung bald zum zentralen Unterscheidungsmerkmal der Eliten, zumal kein ausreichendes Vermögen da ist, um sich damit etabliert zu wissen. Die Machtelite des Kaiserreichs besteht, ganz preußisch, vor allem aus der Beamtenschaft. Die Staatsdiener haben ihr gesichertes Einkommen und einen unmündigen Lebenswandel vor sich. Der Verzicht auf die Meinungsfreiheit war fester Bestandteil des Arbeitsvertrags. Man glänzte durch Leistung, nicht durch Einfallsreichtum.
    Die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts war eine günstige Zeit sowohl für Naturfreunde als auch für Technikfreaks. Sie stand im Zeichen der Naturwissenschaften und der Technik, nicht der Philosophie. Dementsprechend ging es um die Formel, nicht um die Formulierung. Man glaubte wieder einmal, dem Perpetuum mobile näher gekommen zu sein und den Golem beleben zu können.
    Der Philosophie blieben nur die literarischen Ausrucksformen. Sie sah sich dem Unseriösen des Aphorismus ausgeliefert. Dass sich zur Not selbst daraus etwas machen lässt, beweist nicht zuletzt

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