Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die deutsche Seele

Die deutsche Seele

Titel: Die deutsche Seele Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thea Dorn
Vom Netzwerk:
Kinderkrankheiten befallen. (Typisch für diese Haltung sind die Statements von Peter Weiss, der die Bundesrepublik als »Morast« bezeichnete. Eher ambivalent verhielt sich ein Grass, der die DDR kritisch betrachtete, aber die Wiedervereinigung problematisch fand. Zu den rühmlichen Ausnahmen hingegen ist Walter Kempowski, der seine kritische Haltung zur DDR von Anfang bis Ende beibehielt, zu zählen.)
    Die linksliberalen Intellektuellen wollten nicht zurück, weder ins Reich noch in die lamentable Republik, aber wollten sie tatsächlich nach Moskau, wie ihre Gegner ihnen unterstellten? Sie wurden jedenfalls nicht müde, sich als Kosmopoliten zu bezeichnen und damit als weit über dem Geschehen Schwebende. In der realpolitischen Auseinandersetzung aber waren sie jeweils bloß antiamerikanisch, antiklerikal, antiisraelisch, antikapitalistisch, antiwestlich und pazifistisch. Mit einem Wort, sie waren Gegner der Westbindung.
    Westbindung heißt für Deutschland, die politische Abgrenzung zu Frankreich und der angelsächsischen Welt zu vermeiden. Es ist nicht einfach nur die Parteinahme für die Vereinigten Staaten, wie oft unterstellt wird. Die Westbindung ist auch der Verzicht auf die Sonderrolle zwischen West und Ost, und sie bedeutet die Rückkehr zum »Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation«, das seinerzeit das Rückgrat des Abendlands bildete und damit die wahre Rolle Deutschlands in der Gestaltung Europas zumindest erahnen lässt. Sein tausendjähriger Bestand im abendländischen Werteraum (800-1806) grundiert die deutsche Normalität - und nicht der von Preußen gepflegte Abstand zum Westen.
    Der Wilhelminismus war nicht die Krönung des deutschen Wegs in der Geschichte, er war vielmehr der Gipfel des Missverständnisses über diesen Weg. Nach der deutschen Vereinigung in den frühen 1990er Jahren, als alle glaubten, vor der Rückkehr des »Dritten Reiches« warnen zu müssen, gab es einen einzigen Autor, der die Rekonstruktion des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation sah. »Wenn die Franzosen das Wiedererstehen des Deutschen Reichs befürchten«, so Alain Mine in seinem 1993 erschienenen Buch Das neue Mittelalter, »täuschen sie sich über den Charakter dieses Reichs; zu Unrecht meinen sie, das Bismarcksche Modell zeichne sich in ihm ab, wo doch eine ganz andere Version zutage tritt, ein neues Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation […] Auf diese Weise, und nicht durch das Wiederaufleben des klassischen >Drangs nach Osten< findet Deutschland wieder zu seinem Mitteleuropa, das die Räume des eigentlichen deutschen Kaiserreichs und die Ausdehnung Österreich-Ungarns zusammenfasst.«
    Verfassung ist nicht zuletzt auch Ausdruck der Verfasstheit einer Gesellschaft. Preußen war, genau genommen, ein Projekt des außerhalb des Limes gebliebenen Germaniens. So gesehen, ist die Westbindung das wichtigste Merkmal des heutigen Deutschlands. Sie wird durch das Grundgesetz gesichert, und sie erst gibt dem Grundgesetz seinen tieferen Sinn.
    Die Gefahr besteht nicht etwa in einer Rückkehr des »Dritten Reiches«, wie immer wieder gebetsmühlenartig behauptet wird, sondern im Aushöhlen und Aufgeben der Westbindung. Deutschland hat mit der Westbindung den von Helmuth Plessner geschilderten Sonderweg der verspäteten Nation des 19. Jahrhunderts, vor allem die daraus abgeleitete politische Doktrin, aufgegeben.
    Doch der deutsche Intellektuelle geht den Pakt mit dem Teufel im Osten dennoch ein. Nicht aus Gründen der Räson, sonst würde er für die Macht im Staate kämpfen, sondern aus Leidenschaft für die Utopie. Es ist aber eine Leidenschaft aus dem Raucherzimmer. Anstatt sich selbst zum Revolutionär aufzuschwingen, huldigt er regelmäßig dem Gesetzesbrecher. Seltsamerweise erscheint der späte Nachfahr des Idealismus bürgerlich fasziniert von der Gewalt und paktiert mit ihr. Heinrich Boll und Ulrike Meinhof als deutsches Paar? Er, der als ehemaliger Wehrmachtssoldat seine Lektion gelernt hat und, in Bezug auf sie, die Meinhof, doch von freiem Geleit spricht? Für sie, die Publizistin, die Terroristin? Und sie, die sich zur Staatsfeindin macht, um den Staat Bundesrepublik zum Feind erklären zu können, zum Unrechtsstaat? Sie, die den Satz »Die Würde des Menschen ist antastbar« schreibt, um damit den Artikel 1 des Grundgesetzes als nutzlos zu entlarven, als rhetorisches Beiwerk einer besonders raffiniert gestalteten Staatsgewalt?
     
    Es ist schon eine richtige Beobachtung, dass 1989 keine Revolution

Weitere Kostenlose Bücher