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Die Deutschen im Osten Europas: Eroberer, Siedler, Vertriebene - Ein SPIEGEL-Buch

Die Deutschen im Osten Europas: Eroberer, Siedler, Vertriebene - Ein SPIEGEL-Buch

Titel: Die Deutschen im Osten Europas: Eroberer, Siedler, Vertriebene - Ein SPIEGEL-Buch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annette Großbongardt
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absolutistischen Herrscher erneut über das Land her. Bis 1795 teilten sie Polen vollständig auf. Preußen wuchs um weitere 100 000 Quadratkilometer und zwei Millionen Einwohner. Es gewann unter anderem Danzig, Thorn, Masowien und Posen dazu. Das Königreich reichte nun von der Memel bis über die Elbe, von Königsberg bis Warschau.
    40 Prozent der 8,7 Millionen preußischen Staatsbürger waren jetzt Polen. Das führte schon vor dem Zeitalter des Nationalismus zu großen Problemen. Deutsch wurde Amtssprache in den neuen Gebieten, doch die polnischen Bürger durften sich weiterhin in ihrer Muttersprache an die Verwaltung wenden. Obwohl der Polnischunterricht nun gefördert wurde, konnten sich die Beamten mit ihren Untertanen oftmals nicht verständigen. Das förderte nicht gerade das Vertrauen. Der polnische Adel beobachtete skeptisch die Arbeit der preußischen Bürokraten, die 1794 mit dem »Allgemeinen Landrecht« ein ungeheuer präzises, aber auch 20 000 Paragrafen umfassendes Rechtswerk eingeführt hatten. Die Deutschen wiederum verstanden sich als Modernisierer, dünkten sich den Polen überlegen – und behandelten sie zuweilen wie Bürger zweiter Klasse. Wie »römische Sklaven« würden die Bauern im einst polnischen Westpreußen von ihren Gutsherren gehalten, beschrieb ein aus Berlin entsandter Inspekteur die Verhältnisse. Friedrich der Große förderte mit der günstigen Vergabe von Ackerland die Zuwanderung von rund 12 000 deutschen Siedlern nach Westpreußen – auch um den Polen »bessere Begriffe und Sitten beizubringen«. Dies war allerdings mehr Ausdruck eines wachsenden Chauvinismus als systematische Germanisierungspolitik.
    Solche inneren Konflikte gerieten schon bald in den Hintergrund, als Napoleon Europa mit Krieg überzog. Nun wurden die zuvor so gierigen Preußen und Russen Opfer
einer aggressiven Eroberungspolitik, die allein auf die Macht der Armee setzte. Preußen wurde vernichtend geschlagen, verwüstet und von französischen Soldaten besetzt. »Unser Todesurteil ist gesprochen«, kommentierte Königin Luise 1807 den demütigenden Frieden von Tilsit. Preußen verlor mehr als die Hälfte seines Territoriums, darunter Danzig, Warschau und Posen. Die junge Großmacht implodierte. Doch wieder hatte Preußen Glück: Napoleon überdehnte im Russland-Feldzug 1812 seine Kräfte und kehrte mit einem demoralisierten und halb erfrorenen Heer zurück. Auch dank der eilig reformierten preußischen Armee konnte der französische Kaiser danach in den Befreiungskriegen nach Frankreich zurückgedrängt werden. Und keine 60 Jahre später waren es die Preußen, die nun im Herzen der »Grande Nation« standen: Nach gewonnenem Krieg gegen Napoleon III. ließ sich König Wilhelm am 18. Januar 1871 im Spiegelsaal von Versailles zum Deutschen Kaiser krönen.
    Eine Geste, die vielsagender nicht hätte sein können: Wilhelm hatte bewusst den 170. Jahrestag der Selbstkrönung Friedrichs I. gewählt. Preußen, einst im Osten zur Großmacht aufgestiegen, erhob sich nun im Westen zur Vormacht des europäischen Kontinents.

Hort der Toleranz
    Nach der Loslösung vom polnischen Königshaus um 1200 orientierte sich Schlesien nach Westen. Am Rande des Habsburgerreichs gelegen, entwickelte sich aus dem böhmischen Kronland eine bedeutende Kulturlandschaft mit einer Zweistimmigkeit der Sprachen und Konfessionen.

    Von Norbert Conrads

    Das historische Schlesien hatte nur nach Südwesten hin eine natürliche Grenze: den langen Gebirgskamm mitsamt dem Riesengebirge, der es von Böhmen trennte. Ansonsten waren seine Grenzen ringsum offen, man verglich sie mit dem Umriss eines Blattes, dessen Adern das Flusssystem der Oder und ihrer Nebenflüsse bildeten. In der politischen Botanik des 19. Jahrhunderts kam dafür nur das Blatt der deutschen Eiche in Frage. Schlesiens östliche Grenze, die jahrhundertelang auch die Ostgrenze des alten Deutschland war, gehörte zu den wenigen unstrittigen und dauerhaften Außengrenzen des Heiligen Römischen Reiches.
    Das obere Odergebiet bot gute Bedingungen, um ein Staatswesen mit eigenem Landes- und Kulturbewusstsein zu gründen. Das Land war fruchtbar und reich an Bodenschätzen. Alte Handelsrouten folgten den Flüssen, und dort, wo man die Oder gefahrlos überqueren konnte, bildeten sich Orte wie Glogau, Breslau, Brieg, Oppeln und Ratibor. Die Stadtentwicklung begann meist auf dem westlichen Oderufer. Von allen Oderquerungen war Breslau wegen seiner zentralen Lage am besten geeignet, der

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