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Die Deutschen im Osten Europas: Eroberer, Siedler, Vertriebene - Ein SPIEGEL-Buch

Die Deutschen im Osten Europas: Eroberer, Siedler, Vertriebene - Ein SPIEGEL-Buch

Titel: Die Deutschen im Osten Europas: Eroberer, Siedler, Vertriebene - Ein SPIEGEL-Buch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annette Großbongardt
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politische, religiöse
und kulturelle Mittelpunkt des Landes zu werden. In enger Nachbarschaft entwickelten sich hier das Zentrum der Landesherrschaft, der Sitz des Bistums Breslau und die Metropole von Bürgertum und Handel.
    Für die Bildung des historischen Schlesien war das im Jahre 1000 gegründete Bistum Breslau eine wichtige Voraussetzung. Es umfasste das Gebiet, in dem sich das Herzogtum Schlesien ausformen sollte. Aber Schlesien war von Nachbarländern umgeben, die sich politisch erfolgreicher entwickelten, wie Böhmen, Sachsen, Brandenburg, Polen und Ungarn. Deshalb wurde es nie ein Land von autonomer Staatlichkeit mit eigenständiger Macht und Außenpolitik. Im Schatten der größeren Nachbarn konnte es gleichwohl ein eigenes Gepräge und Selbstbewusstsein entfalten.
    In der frühmittelalterlichen Zeit lebte in Schlesien eine slawische Bevölkerung, über die Herzöge aus dem polnischen Königshaus der Piasten regierten. Dieses Haus teilte sich in Linien und hob 1202 die polnische Senioratsverfassung auf. Seitdem konnten die schlesischen Piasten, losgelöst vom polnischen Königreich, ihren eigenen Weg gehen. Die schlesischen Piasten förderten die Christianisierung und Erschließung ihres Landes mit Hilfe von Mönchen aus dem Westen. Diese brachten eine Klosterkultur mit, die mit den Klöstern von Leubus, Trebnitz, Heinrichau, Kamenz und Grüssau auf ganz Niederschlesien ausstrahlte. Parallel dazu hatten Herzog Heinrich I. von Schlesien, der von 1201 bis 1238 regierte, und seine Nachfolger begonnen, im deutschen Reichsgebiet Bauern und Städter anzuwerben, um sie zu günstigen Bedingungen in Schlesien anzusiedeln.
    Die kontinuierliche Einwanderung deutscher Migranten nach Schlesien und Ostmitteleuropa folgte durchaus keinem vermeintlichen Drang nach Osten, aber sie hatte Wissenstransfer und Modernisierung zur Folge. Die deutschen
Zuwanderer gaben an ihre östlichen Nachbarn ein Wissen weiter, das sie selbst nur wenige Generationen zuvor erworben hatten. Die Zahl der deutschen Siedler betrug wohl nur einige zehntausend. Gleichwohl reichten sie und ihre Nachkommen aus, um Schlesien bis zum Ende des 13. Jahrhunderts kulturell und bald auch sprachlich umzuformen. Zu den Katalysatoren dieser kulturellen Rezeption gehörten nicht zuletzt die Städte, ebenso aber auch die piastischen Höfe in ihren Residenzstädten. Eine Anfang des 14. Jahrhunderts in Zürich zusammengestellte zeitgenössische Anthologie, die später als Manessische Liederhandschrift bekannt wurde, würdigte auch Herzog Heinrich IV. von Breslau mit seinen deutschen Minneliedern. Diese Zuwendung zur deutschen Kultur nahm bis zum Erlöschen des piastischen Fürstenhauses im 17. Jahrhundert noch zu. Vier der letzten Piasten und einige Personen ihrer Umgebung ließen sich in die »Fruchtbringende Gesellschaft« aufnehmen, einen feudalen Kreis zur Pflege der deutschen Literatur.
    Die Westorientierung Schlesiens wurde im 14. Jahrhundert durch die schrittweise vollzogene Angliederung an das Königreich Böhmen verstärkt. Für den böhmischen König Karl, der als Kaiser Karl IV. von 1355 bis 1378 das römisch-deutsche Reich regierte, wurde Schlesien ein wesentlicher Teil seiner Machtbasis. Er fügte es 1348 seinen böhmischen Kronländern hinzu. Da Böhmen als Ganzes zum Reich gehörte, wurde damit auch Schlesien indirekt ein Reichsland. Es nahm am Aufstieg Böhmens zu einer politischen und kulturellen Kernlandschaft des Reiches und Europas teil und leistete selbst einen bedeutenden Beitrag dazu.
    Norbert Conrads
    Der 1938 in Breslau geborene Historiker war bis 2003 Professor für Geschichte der Frühen Neuzeit an der Universität Stuttgart und Leiter des Projektbereichs Schlesische Geschichte. Er ist Autor zahlreicher Studien zur Bildungs- und Sozialgeschichte Schlesiens.

    Als 1348 mit der Gründung der Universität in Prag, der ersten im Heiligen Römischen Reich nördlich der Alpen, die böhmische Hauptstadt zu einem Wissenschaftszentrum wurde, hatten schlesische Gelehrte und Studenten daran starken Anteil. Sie gehörten freilich im Jahr 1409 zu den Ersten, die Prag in Richtung Leipzig verließen, als die Anhänger des böhmischen Reformators Jan Hus dort die Rechte der Deutschsprachigen in Frage stellten. Der Hussitismus war eine national-tschechische Bewegung mit kriegerischem Missionseifer. Schlesien erwehrte sich solcher Übergriffe, gegen die der Papst zum Ketzerkreuzzug aufrief. Den Konflikt machte sich das aufsteigende ungarische Königreich

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