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Die Deutschen im Osten Europas: Eroberer, Siedler, Vertriebene - Ein SPIEGEL-Buch

Die Deutschen im Osten Europas: Eroberer, Siedler, Vertriebene - Ein SPIEGEL-Buch

Titel: Die Deutschen im Osten Europas: Eroberer, Siedler, Vertriebene - Ein SPIEGEL-Buch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annette Großbongardt
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Nationalstaat zu integrieren. West- und Ostpreußen gehörten zwar nur kurze Zeit zum Deutschen Bund, doch sie waren Glieder des preußischen Staates und wurden deshalb, obwohl sie größtenteils dem preußischen Beuteanteil an den polnischen Teilungen des 18. Jahrhunderts entstammten, fraglos für die deutsche Nation beansprucht. Nur im mehrheitlich polnisch besiedelten Posen war das anders. Erst im Revolutionsjahr 1848 wurde dieses Gebiet dem Raum zugeschlagen, den die deutsche Nation für ihren Staat beanspruchte. Hier entstand ein nationalpolitischer Konfliktherd, der im deutschen Kaiserreich immer wieder zu schweren Auseinandersetzungen mit den Polen in Preußen
führte. 1848 war dies noch nicht abzusehen, und es störte die europäischen Nachbarn nicht, dass die polnische Nationalrevolution scheiterte und Polen eine dreigeteilte Nation ohne Staat blieb.
    Indem sich die deutsche Nation 1848/49 im nationalstaatlichen Gründungsakt von der alten deutschen Kaisermacht Österreich trennte, übergab sie ihr eine heikle politische Zukunftsaufgabe. Sie musste nach Wegen suchen, ihren vielen Nationalitäten politische Mitwirkungsmöglichkeiten, aber auch Autonomien zu bieten, ohne den Zusammenhalt des Vielvölkerreichs zu gefährden. Rund 7,8 Millionen Deutsche lebten als größte Nationalität unter 35 Millionen Bürgern der Habsburgermonarchie.
    Spätestens 1866, als der Ausschluss Österreichs aus Deutschland auf dem Schlachtfeld von Königgrätz /Hradec Králové bestätigt wurde, stand die deutsche Bevölkerung in der Habsburgermonarchie vor der Aufgabe, sich von der deutschen Nation zu lösen. Ein identitätspolitischer Trennungsstrich war notwendig. Er gelang. Die Deutschen in Österreich bekannten sich zwar weiterhin zur überstaatlichen deutschen Kulturnation, doch zur jungen deutschen Staatsnation gehörten sie nicht. Das ist auf beiden Seiten akzeptiert worden.
    Die Deutschen in den böhmischen Ländern etwa, für die sich nach dem Ersten Weltkrieg die Bezeichnung Sudetendeutsche einbürgerte, waren Bürger der Habsburgermonarchie und nicht »unerlöste« Deutsche, die »heim ins Reich« strebten. Diese Parole schuf erst die NS-Volkstumspolitik – und grenzte sich damit scharf vom 19. Jahrhundert ab.
    Anders als die Italiener kannte die deutsche Nation im 19. Jahrhundert nämlich keine »unerlösten« Gebiete – »Irredenta« – jenseits des Deutschen Reichs oder der Habsburgermonarchie. Dies gilt für alle Bevölkerungsgruppen, die
außerhalb dieser beiden Staaten im östlichen und südöstlichen Europa lebten und sich zur deutschen Kulturnation zählten, weil sie sich nach Abstammung, Sprache und Kultur als Deutsche fühlten.
    Deutsche in Bessarabien etwa, deren Vorfahren im frühen 19. Jahrhundert russischen Werbern gefolgt waren und in dem neurussischen Territorium am Schwarzen Meer relativ geschlossene deutsche Siedlungskolonien gegründet hatten – 1812 waren sie russisch, zuvor osmanisch, nach 1918 rumänisch. Sie pflegten ihre deutschen Wurzeln, doch ein politisches Programm war damit nicht verbunden. Es hätte bei der Habsburgermonarchie oder dem Deutschen Reich auch keinen staatlichen Ansprechpartner dafür gefunden.
    Der Erste Weltkrieg und seine Folgen schufen jedoch eine gänzlich neue Situation. Das nationalsozialistische Deutschland machte die Bessarabien-Deutschen schließlich zu »Volkstumssplittern«, die »heim ins Reich« zu holen waren. Die Sowjetunion, die das Gebiet 1940 erneut besetzt hatte, stimmte, wie im Hitler-Stalin-Pakt bereits zuvor vereinbart, zu, die rund 85 000 Bessarabiendeutschen nach Deutschland umzusiedeln. Hier kamen die meisten zunächst in Lager und wurden dann auf dem Besitz vertriebener Polen angesiedelt. Deshalb erfasste sie der große Strom von Flucht und Vertreibung, als Deutschland den Krieg verlor und die gigantische Westverschiebung Polens erfolgte.
    Der Ort des »deutschen Ostens« in Europa änderte sich mit dem Zeitgeschehen, das zeigt das Schicksal der Bessarabiendeutschen. Denn ihre neue Heimat befand sich in einem neuen deutschen Osten: in den westlichen Gebieten des eroberten Polens, die das nationalsozialistische Deutschland ab 1939 dem Reich östlich der bisherigen Staatsgrenze angegliedert hatte und mit Deutschen besiedeln wollte. So wanderte der deutsche Osten. Ein erster großer Schub
setzte mit dem Ende des Ersten Weltkriegs ein. »Deutscher Osten« lag nun in der Tschechoslowakei und Polen, zwei neugegründeten Staaten, die Gebiete der

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